Logbuch: INFINITE JEST von David Foster Wallace
INFINITE JEST S. 119
Hier ist der Punkt, wo ich sagen würde, das Buch interessiert mich nicht. Und zwar genau wegen seines Umfangs, der neben exzessivem Gebrauch von ungewöhnlichen Wörtern bzw. Lexikspielchen, oder wie heißt die Ordnung der Wortmechanik?, vor allem Blendwerk zu sein scheint. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, ich kann absehen, dass es erzählerisch keinen Höhepunkt geben wird, dass Wallace sich wiederholt, dass die Geschichte weniger wichtig ist als die Erzählweise, dass die Struktur und Dramaturgie wichtiger ist als das, was gesagt wird. Also weit entfernt vom Inhaltismus, der etwas sagen möchte und deshalb das Buch so baut, wie es gebaut ist. „Unterhaltung“? „Langeweile“? Noch klickt da nichts.
INFINITE JEST S. 132
Nach dem schon entscheidenden, weil den Stil aufreißenden und neue Horizonte ermöglichenden „Kapitel“ über Poor Tony, yrstruly und C, der schrecklich krepieren muss.
Das Monsterbuch jagt mir Angst ein. Ich spüre zuerst Neid, ganz kurz, dann gleichzeitig Freude und Inspiration, dann lange Angst. Ich kenne diese Angst: Versagensangst. Diese äußert sich umwillkürlich in einem zuerst herabsetzenden Kritikansatz á la: „Wallace hat praktisch jedes deutsche Wort der gehobenen Bildungsreferenz („Brockengespenst“ aus Goethe) mit übererfüllender, blinder Umlautliebe angefasst („Bröckengespenst“) oder, wie selbst deutschaffine US-Literaten es gern tun, die ihnen fremde Groß-/Kleinschreibung übersehen („Mein kinder“) – neben anderen grammatikalischen Feinheiten der schönen deutschen Sprache, und damit den bildungshuberischen Witz, mit dem er diesen Autorenspaß gewürzt hat, gleich wieder selbst abgesägt.“ Diesen Ansatz muss ich willentlich und mittels kritischer Beleuchtung um 180° drehen. Das gelingt auch.
Bleibt die Frage, ob Wallace‘ Deutschverfälschung vielleicht Absicht ist. Ohne längere wissenschaftliche Vertiefungen belasse ich es hier bei der Einschätzung: ist es wohl nicht. Dafür spricht, dass er diese inkonsistent verwendet (nicht immer ‚ö‘ anstatt ‚o‘ o. ä.) und ausgerechnet einem Deutschstämmigen in den Mund legt, zusammen mit einiger Theorie über dessen Ergebenheit einem höheren Gemeinwesen gegenüber, mit allen für Deutschland folgenden Implikationen, die Wallace ohne Boshaftigkeit auszuführen versteht.
Wallace folgt sozusagen genau dem entgegengesetzten Pfad von dem, den Beckett verfolgt hat. Hierbei geht es aber nicht wieder um Bildungshuberei – diesmal meine -, sondern um den Diskurs, der hier verfolgt bzw. fortgesetzt wird und in den sich dieses Werk bzw. dieser Autor eingliedert oder gegen den ers sich verhält. Becketts Entscheidung gegen das, was er schon bei Joyce modernistisch und meisterhaft ausgeführt beobachtet und gelernt hat, das offen referenzielle Schreiben, war eben zwar hergeleitet aus der persönlichen Geschichte und lange, ehe der Gedanke einer Theorie der Diskurse gedacht wurde, bedeutete aber doch eine Abwendung von diesem modernistischen Diskurs in dem sehr wachen Bewusstsein, dass es sich auf dem Terrain ausdiskursiert hatte. Insofern stellt sich die Frage, ob Wallace mit diesem Buch neue Wege beschreitet und einen neuen Diskurs eröffnet, die Frage nach dem Neuen in seinem Buch schlechthin. Wallace Bildungshuberei rangiert auf explizit und genüsslich viel niedrigerem Level als – um bei dem Trendsetter jener Generation zu bleiben – James Joyce. Er arbeitet stärker mit Straßenjargon, was nur heißt, dass Literatur der höchsten Klasse das schon lange „darf“, während es bei Joyce noch ein Skandal war. Natürlich geht es im maskulinen Pubertätsroman INFINITE JEST andauernd um Masturbation und all das, während Joyce den Puffbesuch seiner Figuren Daedalus et alteri schön mit Soundprosa verklausulieren musste. Er, Wallace, gestaltet technische Fantastik wie Thomas Pynchon (Aufsatz über Videophonie); er erfindet lustige, sprechende Namen wie Pynchon (eigentlich alle), er erfindet abstruse und absurde Geheimgesellschaften, wiederum wie TP, aber an dem kommt eben auch einfach keiner von diesem Format und Interesse vorbei, mal ehrlich. (P.’s Reverenz erfolgte gleich comme-il-faut mit dem Titel seines kurzen Detektivromans: INHERENT VICE.)
Aber welchen Diskurs verfolgt Wallace hier? Im Vorwort von Dave Eggers wird ein bisschen herumgetastet im us-amerikanischen Vergleich, Namen wie Exley oder Pynchon oder Borroughs oder Kerouac fallen, müssen fallen, auch wenn Eggers sie hauptsächlich anführt, um die Rauschhaftigkeit von Wallace’ Schreiben von dem der erwähnten Herren (immer Herren. Hm.) zu unterscheiden – what’s your drug? Ohne hier zu einem Ergebnis zu kommen, mitten auf der Reise: Wallace ist jedenfalls einer, der Trash und durchschnittliches Leben und Medien und Literatur kongenial verbindet, sehr unterhaltsam ist, sofern man sich durchbeißt, und jetzt (endlich) habe ich auch schon einmal herzhaft lachen müssen, als in „Helen“ Steeplys Artikel der Frau mit dem neuartigen, künstlichen, externen Herzen in der Handtasche – aber wer wird denn den Spaß verderben! Soweit diese end-losen Gedanken.
Es ist ein freundliches Monster, das enthüllt spätestens der zweite Blick. Immer wieder aber erinnert es uns daran, dass es – freundlich oder nicht – doch Monsterblut in den Adern hat.
Wir lesen weiter.
INFINITE JEST S. 171
Wieder eine wunderbare Stelle in I. J.: Vater-Sohn-Gespräch, wo der Vater dem Sohn etwas über den Umgang mit den Dingen erklären will (sowieso schon phantastisch), das dem S. ganz offensichtlich über die Hutschnur geht, bis er dann (der Vater) zunehmend alkoholisiert darauf zu sprechen kommt, wieso er ein Versager im Leben ist, und wieso das mit seinem Vater zu tun hat. Das ist groß.
Dave Eggers mag der Meinung sein, dass „it [das Buch] uses a familiar enough vocabulary“; mir käme ca. zweimal pro Seite ein Wörterbuch recht gelegen. Und ich bin ebenso froh wie untröstlich, dass die Aufgabe, die ultimative Aufgabe für einen Übersetzer fremdsprachiger Literatur ins Deutsche, ein Buch wie dieses, von einem Autor, der solchen Sprachspaß – ja, erleidet, dass er ihn ausexerzieren muss, glücklicherweise ohne dabei eben vollkommen literarisch abzuheben („punish you for some knowledge you lack“; D. E.), dass diese Aufgabe mir nicht zugefallen ist. Fußnote 55: Wallace lässt Hal darüber nachdenken, dass das Wort „entrapped“ des Kollegen Pemulis eigentlich wohl hätte „suborned“ heißen müsste. Während ich noch dachte, „entrapped“ – komisch, war mir „suborned“ schon außerhalb der lexischen Reichweite. Es wäre eine weitere aufwändige Aufgabe, die Entscheidungen von Ulrich Blumenbach im Einzelnen nachzuvollziehen. Beim Lesen stellen sich mir diese Fragen in einem Nebenfokus, aber ich bin zu sehr mit Lesen beschäftigt, um das auch noch aufzuzeichnen. Diese verschiedenen manierierten Wendungen („and then so but“), dieser ganze Fußnoten-Joke natürlich, womit Wallace literaturgeschichtlich wirklich einen gelandet hat, oder die köstlichen Ellipsen („it is also now the hardest recreational compound to acquire in North America after raw Vietnamese opium, which forget it.“), das sind herrliche Aufgaben.
INFINITE JEST S. 373
Beim legendären Konzert in Helsinki 1988 ließ Frank Zappa George Duke – wie schon 1974 bei A TOKEN TO HIS EXTREME – mit den „finger cymbals“ in – also mit den Fingerbecken (so ganz winzige Beckchen, die mit Gummischlaufen über die Finger gezogen und angeschlagen werden, woraufhin sie ein entsprechend winziges Geräusch von sich geben) – ein Solo (!) spielen, das sich gen Ende hin zu etwas steigerte, was FZ „orgasmic frenzy“ nannte, so orgasmisch nämlich, dass sich besagter Fingerzymbelspieler jedes Mal verletzte („Hurt yourself again, George“ – „Ouch“).
In I. J., nach diesem „Kapitel“ über „Boston AA“, also Alcoholics Anonymous (wir lesen ja immerhin auch oder vor allem einen Roman über Sucht), zeichnet sich wiederholt ein Muster im Aufbau ab. Wallace wählt für ein bestimmtes, im Vorfeld vielleicht schon eher beiläufig erwähntes Thema eine vertiefende Situation. Er berichtet diese aus Sicht einer seiner Figuren (hier: ein AA-Treffen mit Don Gately), die er ggf. bei dieser Gelegenheit auch genauer einführt. Diese Ausführungen sind lang, in einer anderen als meditativen Leseverfassung mitunter langweilig, kulminieren aber auf den letzten zwei Seiten regelmäßig zu dem, was Frank Zappa als „orgasmic frenzy“ bezeichnete, mit geradezu stürmischem, absurden Humor, der mich jedesmal versöhnt und laut auflachen lässt. So auch das ganze, anfangs öde, Kapitel über Eschaton, jenes auf vier Tennisplätzen gespielte Spiel der Akademiekids zum jährlichen Interdependence Day. Dabei sind die Tennisplätze die gesamte politische Weltkarte, eine Unmenge von alten Tennisbällen stellen Nuklearwaffen dar.
Ein anderes stilistisches Instrument ist das Gegenschneiden von Sicht-des-Autors und Sicht-der-Figur. Das verwendet Wallace sehr häufig, ein probates Mittel, um die Dynamik zu erhöhen, wenn in immer rascherem Tempo zwischen immer kürzer geschilderten Perspektiven gewechselt wird.
Infinite Jest S. 417
Wallace hat diesen Roman 1996 veröffentlicht und laut dem Vorwort von Dave Eggers zur 10-jährigen Jubiläumsausgabe seit 1993 daran geschrieben (drei Jahre!: unerklärlich!). Wie schon früher bemerkt, hat er die Handlung ungefähr im Jahr 2007 angesiedelt, in einer in den Amerikas neu eingeführten Zeitrechnung der „Subsidized Time“ (etwa: Gesponserte Zeit). Diesen sowie auch die neue Begrifflichkeit eines Staatengebildes in der Nachfolge der USA, (der „O.N.A.N“ (Organisation of North American Nations)) haut uns der Autor 400 Seiten lang in vielen syntaktischen und lexischen Verpackungen um die Ohren, um dann endlich erst das eine – die Entwicklung der Staatlichkeit in Nordamerika sowie der viel erwähnten „Great Concavity“ zwischen USA und Kanada -, dann das andere – die Entwicklung der neuen Zeitrechnung unmittelbar aus einem Zusammenbruch der bisherigen TV-Unterhaltungsindustrie – in je einem Kapitel mittels eines wunderbaren dramaturgischen Wirbelwinds (wird nicht verraten), der seine Konstruiertheit nicht verhehlt, endlich und in autorialer Gnade herzuleiten und zu entschlüsseln. Der möglicherweise bis dahin im leserseitigen Getriebe noch vorhandene Sand wird weggeblasen, die Sicht klärt sich weiter, und wir geraten kurz vor der Hälfte des Werks wieder in rapidere Lesefahrwasser. Man muss die Reichweite des imaginativen, konzeptionellen Wurfes Wallace’ ermessen, der (der Wurf) – ohne die (immer noch) aktuellen politischen Umstände und gesellschaftlichen Bedingungen je aus dem Blick zu verlieren – eine Welt schafft, deren Absurdität es durchaus mit der der bestehenden Welt aufnimmt, ja sich logisch gerade aus ihr speist.
Zum Unendlichen Spaß der Literaturübersetzung Kollege Ulrich Blumenbach 2010 in der Süddeutschen.
Infinite Jest S. 443
Das Buch bewegt sich eher in die Tiefe als in die Breite oder gar in eine Richtung. Wenn man sich fragt, wovon das Buch handelt, wird es schwierig, eine Geschichte zu erzählen. Jemand hat’s versucht:
Vielleicht geben die Figuren genaueren Aufschluss:
Über, Hal Incandenza, die bisherige Hauptfigur, mit der der Roman auch beginnt, ist nach knapp der Hälfte des Buches nichts zu sagen, was einer Entwicklung gleichkäme. Die Zahl seiner inneren Konflikte stapelt sich, je mehr wir über den grotesken familiären Hintergrund erfahren. Hal kifft wie verrückt und bleibt einer der stärksten Tennisspieler seiner Qualifikationsklasse. Der Vater tot nach spektakulärem Selbstmord und einem Leben mit drei Karrieren, deren letzte Kunstfilmemacher war. Die Mutter Lehrerin an der Tennisakademie des Sohnes, die beiden Brüder nicht oder nicht mehr leistungstennisfähig. Ein paar Mitschüler des Teenagers, Pemulis, Troelsch, Struck … ein paar der Lehrkräfte und Trainer. Alles in Enfield, einem kleinen Ort in CT. Die Atmosphäre in dieser Akademie, das Leben der Schüler, ihr Verhältnis zum Leistungssport, ein paar Turnierberichte – das ist die eine erzählerische Säule.
Der andere Schwerpunkt des Buches ist ein Wohnheim für Suchtkranke in Boston MA. Einzelne Figuren (Don Gately, Joelle van Dyne) werden betrachtet, sind aber in ihrer Geschichte auch stagnant, Entwicklung dort: keine. Über die Drogenszene in Boston erfahren wir eine Menge. Ein zutiefst depressives, aber von einer irgendwie inneren Schönheit beseeltes Mädchen hat eine Uniradiosendung und ist (früher? Später?) Patientin in dem Wohnheim.
Ein Paar Spione taucht auf, Rémy Marathe und Hugh Steeply, pynchoneske Gestalten, ganz und gar außerhalb jeglichen Realismus’. Sie werfen sich im Wesentlichen Positionen im Separatismuskrieg des Québecer Untergrunds an die Köpfe, bleiben ansonsten aber so merkwürdig, wie sie sind, der eine im Rollstuhl, der andere nicht sonderlich kunstfertig als Frau verkleidet. Beide bewaffnet in gegenseitigem Misstrauen, gleichzeitig alte Bekannte, die sich intime Geheimnisse verraten.
Diese (Zwischen-) Zusammenfassung gleiche ich ab mit einer anderen, die ich auf Ask.com gefunden habe:
Wallace thematisiert im Buch unter anderem Drogenabhängigkeit, Hedonismus, Depressionen, Kindesmissbrauch, Materialismus, die Unterhaltungsindustrie, den Unabhängigkeitskampf von Québec und Tennis.
In einer nicht allzu fernen Zukunft haben sich die Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko zur O.N.A.N. vereint, der Organisation Nordamerikanischer Nationen. Das frühere US-kanadische Grenzgebiet wurde evakuiert und in eine riesige Müllkippe verwandelt. Die durch den Gebietsverlust entstandenen Steuerausfälle werden kompensiert, indem an zahlungskräftige Firmen das Recht verkauft wird, die Jahre nach ihren Produkten zu benennen (so tragen beispielsweise die meisten Kapitel des Romans die chronologische Überschrift Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche). Einige frankokanadische Separatistengruppen haben ihre Operationen auf ehemaliges US-Gebiet ausgedehnt, insbesondere die rollstuhlfahrenden „Assassins des Fauteuils Roulants“ (A.F.R.). Als Waffe würden sie gerne eine Videokassette einsetzen, den Film Unendlicher Spaß, das letzte Werk des Regisseurs James O. Incandenza. Jeder, der diesen Film sieht, wird innerhalb von wenigen Minuten unwiderruflich in den Geisteszustand eines Kleinkinds zurückversetzt und will nichts anderes mehr, als wieder und wieder diesen Film anschauen – für die A.F.R.-Aktivisten ideologisch die passende Waffe, weil die Amerikaner so Opfer ihrer unersättlichen Gier nach Unterhaltung würden. Die A.F.R. sucht daher nach der kopierbaren Master-Kassette von Unendlicher Spaß – genauso wie der Geheimdienst, der die Verbreitung des Films verhindern möchte.
Diese Suche verbindet unterschiedliche Handlungsstränge und Figurengruppen miteinander und fokussiert den Handlungsort auf die Enfield-Tennisakademie, die von James O. Incandenza gegründet wurde und wo sich während des Handlungszeitraums des Romans seine beiden jüngeren Söhne Mario und Hal aufhalten. Neben dem aufstrebenden und drogensüchtigen Tennistalent Hal Incandenza und dem A.F.R.-Aktivisten Remy Marathe gehört der hünenhafte Don Gately zu den Hauptfiguren des Romans. Gately, ein Ex-Dieb und Mörder, lebt in einem Drogenentzugsheim unterhalb der Enfield-Tennisakademie und ist zu einem vehementen Anhänger der Anonymen Alkoholiker geworden. Mit der Suche nach Unendlicher Spaß verbindet ihn eine Beziehung zu Joelle van Dyne, die im Laufe des Romans nach einem Suizidversuch in das Heim einzieht; sie ist die Hauptdarstellerin von Unendlicher Spaß, kennt den Inhalt des Films allerdings nicht, da sie ihn nie gesehen hat.
Ich stelle fest, dass ich die Hauptstränge so nicht zusammengebracht habe, aber vielleicht auch nur, weil bis Seite 400 noch zu wenig zusammengebracht worden ist, außer den politischen Entwicklungen. Auch der Film ist schon eingeführt, erst in der Filmografie von Vater Incandenza, dann über die Vita von Joelle. Der eigentliche Filmtitel erscheint zuerst als Abwandlung bei der Charakterisierung des toten Vaters („infinite jestor“), dann – wie könnte es anders sein – in der umfänglichen Fußnote zur Filmografie des Vaters. Aber dass es überhaupt um diesen Film als „Geheimwaffe“ geht, das konnte ich bisher nur ahnen, denn im aktuellen Gespräch zwischen den Spionen Marathe und Steeply wurde das erwähnt. Wallace hält mit den entscheidenden Informationen also unendlich lange hinterm Berg.
Nicht zu übersehen ist natürlich die dramaturgische Parallele zu Pynchons GRAVITY’S RAINBOW (DIE ENDEN DER PARABEL), in dem ebenfalls von verschiedenen Seiten, ebenfalls u. a. von ultrageheimen Geheimorganisationen, nach einem obskuren, mysteriösen Gegenstand gesucht wird (dem „Schwarzgerät“).
Jeffrey Eugenides in einem schönen Interview der FAZ 2009 (in Berlin) über seine Leseerfahrung des Buches. Er bezeichnet die Struktur des Buches als Kreisstruktur, ich würde eher sagen, es ist ein Strudel, dessen Kern man immer näher kommt, dessen Randelemente alle nach innen weisen, während sie bei der linearen Leseerfahrung immer wieder am Leser vorbeiziehen.
INFINITE JEST S. 560
Wie jetzt? Gerade hatten sich die bisherigen Erzähl- und Handlungsstränge beim Leser zu einer Art nachvollziehbarem, atemberaubenden Gesamtbild zusammengefügt, bzw. haben ihre äußersten Ausläufer begonnen, sich zu berühren, da wird kurz nach Mitte des Romans plötzlich eine neue Figur eingeführt, und man muss sich fragen, auf welche Weise dieses neue Puzzleteil nun in das Gesamtgefüge hineinpasst. Das ist ein Kokainkonsument mit dem Namen Lenz, dessen Bezug DFW sicher klar war, denn Lenz ist verrückt, ein Sadist. Wird im Ennet House (Wohnheim für Leute, die von der Sucht loskommen wollen) in Ruhe gelassen. Seine nächtlichen Torturen von Haustieren anderer Leute werden recht detailliert beschrieben. Als Mittel zur Spannungslösung, als die er selbst sie definiert und rechtfertigt, taugen sie wohl nicht so recht, denn ihre Intensität, d. h. auch Größe der Opfer, steigert sich allmählich. Bis der Wahleinsame unverhofft und ohne es bewusst zu wollen einen Freund findet, den er nicht mehr los wird, der ihn auf den nächtlichen Streifzügen begleitet wie eine leider nicht ganz unwillkommene Klette, und der möglicherweise eine bessere Möglichkeit zum inneren Spannungsabbau bietet, als der in seiner Selbsterkenntnis nicht ganz so versierte wie eingebildete Lenz es erkennen kann.
Rätsel gibt weiterhin die zeitliche Struktur auf, die zwar hie und da ein Datum einstreut (immer Frühjahr oder Herbst des Y.D.A.U. [Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche]), aber eine Notwendigkeit noch nicht offenbart. Natürlich kann man sich das alles auch hier im Wiki erklären lassen. Aber das vermeidet eben den Effekt der Erfahrung der eigenen Erkenntnis.
INFINITE JEST S. 690
INFINITE JEST blockiert die ganze Leseliste. Im Regal zappeln schon ungeduldig Broch und Mahlke, Hein und Handke. Aber wenn ich doch einmal dazu komme, mich wieder IJ zu widmen, irritiere ich mein Umfeld durch wiederholtes, plötzliches Auflachen. Inhaltlich gab es jetzt länger wenig Bewegung. Nachdem besagter Lenz als sinister und umtriebig eingeführt war, diente er dazu, fiese Böse in Richtung Ennet halfway house zu führen, wo sie in einer wirklich atemberaubend grandiosen Schlacht von Don Gately, ja: vernichtet wurden. Sensationell. Damit ist Gately, angeschossen, jetzt erstmal außer Gefecht. Wir kommen also zum unendlichen Tennismatch Ortho „The Darkness“ Stice gegen Hal Incandenza, das die Kritik wiederholt als weniger überzeugend strukturiert dargestellt hat, weil es nämlich sehr lang hingezogen und immer wieder mit anderen Informationen durchschossen ist. Stice siegt über Hal, und dass im Angesicht von „Helen“ Steeply, der sich an die Incandenza-Familie heranrobbt. Wir erfahren wieder mehr über Hal und seinen Vater. „Helen“ Steeply hat ihr Interview mit Orin Incandenza geführt (kolportiert in langen Fußnotenseiten in sehr kleinem Druck irgendwo hinten in dieser Ausgabe), wir erfahren mehr über James Inc.‘s Filme. An welchem Tag findet eigentlich das Gespräch zwischen Steeply und Marathe statt?
Ich kann nicht mehr, ich brauche Abwechslung, kurzfristigere Erfolgserlebnisse, die sich nicht über dreihundert Seiten ausdehnen. Mein Alltag gestattet solche Wellenlängen eigentlich nicht, was nicht heißt, dass ich finde, mein Alltag sollte sich nicht mal ein bisschen anstrengen und anpassen. Aber mein Alltag ist eben nicht nur mein Alltag, seine Anpassungsfähigkeit hat Grenzen. Schon in Schuhen auf dem Weg aus der Tür und zum Theater schnappe ich mir Ostermaiers SCHWARZE SONNE SCHEINE. Der Bus kommt zu spät, da schaffe ich noch ein paar Seiten mehr. Ein 24jähriger kämpft mit dem Wunsch, Literat werden zu wollen und der Enttäuschung seiner Eltern, die das nicht wollen. Dann überfällt ihn die Nachricht einer lebensbedrohenden Erkrankung. So beginnt das vor allem in hohem Lesetempo geschriebene Buch über die Zeit vor präzise zwanzig Jahren Buch. Noch ist nicht klar, wie die lebensbedrohliche Erkrankung, die am Anfang eingeführt wird, weitergeht. Oder wie viel davon Autobiographie ist. Der Text bewegt mich wegen der Suche der Hauptfigur nach dem Literaten in der Hauptfigur, auch wenn ich das Gefühl habe, das ist keine Literatur, die mich inspiriert. Aber sie macht Mut: Bücher, die im Handel herhältlich sind, sind tatsächlich schreibbar.
„Es finden kaum Auseinandersetzungen statt, weil niemand die Zeit hat – innerhalb und außerhalb der Kulturredaktionen. Will man sich mit komplex arrangierten Büchern auseinandersetzen, braucht man einfach Wochen, und in der Zeit kann man nichts anderes schreiben und lesen. Und am Ende springen ein paar Cent Zeilengeld heraus. Das kann sich eben niemand mehr leisten, und das ist auch ein Grund, warum in den Kulturteilen der Vorwurf, dass etwas zu komplex ist, recht schnell und gerne formuliert wird. Das ist ein großes Problem, wird aber nicht als das diskutiert, was es eben auch ist: eine ökonomische Frage.“
Das reflektiert genau meine Erfahrung mit INFINITE JEST. Das Buch ist anstrengend nur, wenn man keine Zeit hat, sich den wunderbaren langen Bögen zu widmen (selbstverständlich auch bei gewissen eher kategorischen Erwartungshaltungen). Und es ist zeitraubend, wenn man ein durchschnittliches, an eine Erwerbstätigkeit gebundenes Leben führt. Die anderen Bücher drängeln schon, das macht manchmal ein bisschen schlechte Laune. Aber wenn Wallace dann in einer der längeren Fußnoten beschreibt, wie Mrs. Tine vom US-Büro für nicht näher definierte Aufgaben Frau Motkin über den Film Infinite Jest und dessen Herstellung und Verbleib befragt, wie es zu Joelles Unfall und Verstümmelung kam und wie auch deren Mutter verstümmelt wurde und wie überhaupt Joelles selbstredend kaputte Familiengeschichte sich herleitet, über die wir bisher im Haupttext nichts erfahren haben (bezauberndes Konzept: die wichtigsten Informationen erscheinen konsequent explizit marginal), dann ist das ein Erzählvergnügen, hinter dem sich der spätere Tarantino verstecken kann.
Ein Abschluss zur Lektüre
von INFINITE JEST stand noch aus, das Logbuch über die letzten 200 Seiten oder so. Darin ging es hauptsächlich um Gatelys delirierenden Aufenthalt im Krankenhaus, immer noch genesend von den Schusswunden. Dauerthema: die Ärzte wollen ihm Schmerzmittel Demerol geben, während er als hartnäckig abstinenter Süchtiger sich sprachlos dagegen wehrt, immer mit Schlauch im Mund. Derweil erfährt er Halluzinationen von JO Incandenzas Geist, der ihn besucht, sowie von seiner geliebten Joelle. Der Natur seines Zustands entsprechend ist ihm jeweils unklar, ob diese Besuche real oder imaginiert sind, und auch der Leser kann das nur schätzen. Ebenfalls unklar ist dramaturgische Grundsituation: sowohl eine US-amerikanische Geheimdienstabteilung wie auch die Quebecer Untergrundorganisationen suchen nach dem Mastertape von INFINITE JEST (der Film), das aber nicht aufgefunden wird. Im Nebensatz erfahren wir von dem Geist, der es ja wissen müsste, auch nur so etwas wie „es ist in seinem Kopf und wurde mit ihm beerdigt“. Was bedeutet das? Und hat er (JO Inc.) seinen Kopf deswegen explodieren lassen? Schade, das bleibt schwammig. Dafür gibt es am Ende des Buches nochmal eine heftige Splatter-Geschichte aus Gatelys Verbrechervergangenheit, als er sich in einer mehrtägigen Session mit einem Kumpel gestohlene Pillen zu Gemüte führte und der die Pillen gestohlen habende Kumpel dann durch den Bestohlenen einer widerwärtigen Tortur unterzogen wurde.
Das in aller Kürze. Nachdem ich 2013 neun Artikel über meine Leseerfahrung mit INFINITE JEST geschrieben habe, wollte ich den Dekalogs noch vor Jahresende abschließen. Ist nicht gelungen. Etwa in diese Zeit fiel meine Erkenntnis, dass seit dem Erscheinen des Romans vor immerhin bereits 18 Jahren von Einzelpersonen wie auch von Lesergruppen unzählige Blogs mit Leseerfahrungen geschrieben wurden, so dass mein bescheidener Beitrag nachgerade überflüssig erschien.
Ebenfalls unter die Räder der Lektüre gekommen sind die unzähligen Stellen, an denen ich mich gefragt habe, wie Ulrich Blumenbach das wohl in der Übersetzung gelöst hat. Hier aber bin ich mir sicher: die beiden Bücher lege ich noch nebeneinander und lasse mich erleuchten.
Was aber keineswegs überflüssig ist, ist die Wirkung des Buchs auf meine Ansprüche als Leser und natürlich auch als Autor: so musste ich beispielsweise in den Häusern der Barbaren schon nach ca. 70 Seiten weglegen. Diese Art von gut gemachter Literatur, so musste ich zu meiner Überraschung feststellen, halte ich – zumindest derzeit – nicht mehr aus. Das geht einfach nicht mehr. Zu alt für uninspirierende Schreibe, zu ungeduldig für zu schlichte Sätze und Perspektiven. Was natürlich ganz individuell ist, schätze ich.
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