Ein bescheidenes Anliegen
Zugleich mit Ihnen, werter Herr René Rilke, schreibe ich diesen Brief an die Herren Larssen, Unseld und Zinn in Deutschland und Aveline und Barbin hier in Frankreich. Soweit ich es übersehe, sind das die Personen, die an meinen Zeilen ein Interesse haben könnten. Ich hoffe, Sie erhalten sie bei bester Gesundheit.
Ich trage mich schon lange mit dem Entschluss, Ihnen zu schreiben. Es ist mir nicht leichtgefallen. Stets geschieht das Unvorhergesehene und nicht das Geplante. Nachdem ich dieses Schreiben jahrhundertelang vor mir her geschoben habe; nachdem ich die Angelegenheit soweit verkleinert hatte, dass sie für mich praktisch keine Notwendigkeit mehr hatte; nachdem ich mir glaubhaft gemacht hatte, dass all das alltäglich und keiner weiteren Beachtung wert sei; nachdem darüber sehr viel Zeit verflossen ist und ich zum Schreiben wie zum Leben mittlerweile der Hilfe eines jungen Mannes bedarf, ist jede weitere Verzögerung eine Ewigkeit mehr in den Flammen des Fegefeuers. Wäre ich nur schon dort. Zuletzt muss ich einsehen, dass ich mich aus Unbehagen um etwas Notwendiges herumdrücke. Zwar heilt die Zeit keine Wunden, aber immerhin erlaubt sie einen anderen Umgang mit dem Schmerz.
Wer bin ich? Wenn Ihnen der Name Noël Bouton nichts sagt, so doch sicherlich die in Ihrem Verlag erschienen ‚Portugiesischen Briefe‘. Diese Briefe hat Marianna Alcoforado an mich geschrieben.
Ich wohne in Frankreich. (Verzeihen Sie die Unhöflichkeit, dass ich aus meinem genauen Aufenthalt ein Geheimnis mache.) Ich bin nie wieder herausgekommen aus diesem Land, obwohl ich es so gründlich hasse. Die französische Luft kann ich kaum noch atmen, keinen Fuß mehr auf diese Erde setzen. Aber ich habe keine andere, weder Luft noch Erde. Wir kennen uns schon zu lange, diese Nation und ich, zu oft haben wir uns schon unter den Rock geguckt. Ich war immer königstreu, mit den Reformierten hatte ich nichts zu schaffen. Irgendwann war es auch zu spät. Ein paar Jahrzehnte lang hatte ich mich versteckt gehalten; vollkommen sinnlos, wie sich zeigte. Ich hatte mich überschätzt. Wer mich noch hätte verfolgen oder auch nur ein Interesse an mir haben, ja wer sich auch nur an mich hätte erinnern können, war längst gestorben. Mein Haus bei Chamilly ist jetzt ein touristisches Weingut. Wenigstens mein Name steht noch auf den Fahnen, meine Familie ist noch existent, so dass man in Anbetracht der vergangenen Zeit ruhig vom Geschlecht der Bouton sprechen kann. Historiker kennen mich noch, Geschichtslehrer schon nicht mehr. Ich bin allein mit dem Wissen um eine Vergangenheit, die mit jedem Tag neu und anders erfunden wird. Vielleicht ist überhaupt das das Schwerste. Zu sehen, wie die eigene Wirklichkeit vor der öffentlichen Wahrheit unwahr wird.
Der junge Mann lacht mich aus, er glaubt mir nicht. Ich lache mit ihm: doch, es stimmt. Rechnen Sie, Marcel, dreihundertsiebenundsechzig Jahre alt. Dann sei ich wohl mit Richelieu auf die Jagd geritten, fragt er mich. Das Sozialamt schickt einen Schwarzen, aus den Kolonien, einem alten Mann zur Hand zu gehen. Er versteht nichts. Ich habe damals auch nichts verstanden, in seinem Alter. Zugegeben, ich bin eigensinnig, aber ich will nicht alles aufs Alter schieben. Jede Eigenschaft findet sich bei Menschen jeden Alters. Aber vielleicht drücke ich mich nicht klar aus. Es fällt mir schwer, ich spreche mit niemandem mehr. Die wenigen Meter über den Flur meiner neuen Heimwohnung, vom Fenster zum Sessel, lege ich mit meinen albernen alten Beinen zurück, lege sie immer wieder zurück, diese Entfernung. In all den Jahrhunderten habe ich den Weg nach Beja wohl hundert mal geschafft. Ein Jakobsweg, in meiner Wohnung zigtausendmal gefaltet wie eine japanische Klinge, damit er hineinpasst.
Die Briefe. Natürlich ist mir Ihre deutsche Übersetzung, die Sie freundlicherweise und mit treffsicherem literarischen Instinkt vollbracht haben, gut bekannt. Auch die erste französische zu studieren hatte ich Muße genug. Ich habe sie alle gelesen. Sogar Ihre Sprache habe ich kürzlich dafür gelernt. Nicht schlecht für einen alten Mann, finden Sie nicht? Die Originale gelten als verschollen. Ich halte sie jetzt hier in meinen Händen, die Briefe selbst. Von Mariannas Hand geschrieben, von ihrem Bruder überbracht, der in meinem Regiment diente. Portugiesisch. Schön. Das haben Sie richtig vermutet. Könnten Sie sie doch lesen. Könnten Sie doch in ihrem Original die Größe begreifen, die sich in diesen paar alten Blättern Papier entfaltet. Ich bin versucht, diesem Brief eine Abschrift von Mariannas Schreiben beizulegen. Für Sie. Privat. Ich gönne es Ihnen und wünsche mir, dass Sie mich verstehen. Der junge Mann hier versteht kein Portugiesisch. Er weiß auch nichts von der Geschichte, die in diesen Seiten liegt. Ich werde es nicht tun. Für Sie als Literat und Übersetzer muss es besonders qualvoll sein zu wissen: die Originalbriefe existieren, diese Dokumente der Weltliteratur, und Sie werden sie nicht sehen. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen diese Qual nicht ersparen. Es ist meine Geschichte, soll sie meine bleiben.
Weder an den Briefen noch an mir hat die Zeit ein gutes Haar gelassen; das Ringen der beiden Geister aber, meines und Mariannas, ist aus dem jugendlichen Stadium in das erwachsene und schließlich in das der Toten übergegangen, ein ewiges. Denn von Rechts wegen müsste ich natürlich längst tot sein, und ich gäbe einiges darum. Beharrlich hält sich der Irrglaube, wenn man nur alt genug würde, würde die Weisheit sich schon einstellen. Ich bin wahrhaftig alt genug. Bald werde ich nur noch eine Runzel sein. Ein verrunzelter Gedanke, ein runzliges Stück Fleisch. Aber es hat sich keine Weisheit eingestellt bisher. Es kommt auch keine mehr.
Ich habe ein konkretes Anliegen und muss dazu aber wohl ein wenig ausholen. (…)
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