WEISSKERNS NACHLASS
WEISSKERNS NACHLASS überzeugt mich, weil Christoph Hein es so sparsam, konzentriert, diszipliniert, mit bei aller Fülle so raschem Lesetempo komponiert hat. Man/er verliert sich nicht in langen Kontemplationen. Alles ist immer Handlung, stark und konsequent und ausschließlich reflektiert durch die Wahrnehmung der Figur. Zuweilen wird der Plot dabei durchsichtig, und man sieht das Konzept durchschimmern. Immer eine schwierige Entscheidung, denn dabei findet man sich unvermittelt schlauer als der Text, man ist schneller, wie gelegentlich bei hochliterarischen Filmen (z. B. GNADE), die asketisch auf narrative Entspanntheit verzichten. Der Leser benötigt aber, wie zum höheren Genuss, genügend Fleisch, sonst liegt er sich wund auf den harten dramaturgischen Knochen. Das ist tatsächlich das einzige, dünne bisschen Kritik, das ich an diesem sonst so glänzenden Stück Literatur anbringen kann: dass CH vielleicht etwas ungeduldig war.
Wichtiger aber ist die Fähigkeit des Autors, den Leser so in seine Figur zu ziehen, dass man ihr in jedem Schritt folgen muss und auch kann, aber nicht immer weiß, wieso man mit ihr jetzt dorthin gekommen ist, wo man sich befindet. Die Umwelt bleibt diesem älteren Professor rätselhaft (wie zum Beispiel die Geschichte mit der Freundin, die sich dann irgendwie nicht mehr meldet), wie auch er ihr sicher schrullig vorkommt, oder – wie mir meine Frau und andere Leserinnen mitgeteilt haben – sogar unsympathisch. Dieses Urteil hat mich überrascht, hat es mir doch gezeigt, dass ich so in der Figur steckte, in ihrem eigenen Bild von ihr, einem bisschen Selbstgerechtigkeit, zu alt zur Veränderung, dass ich den Abstand für eine Bewertung meiner Sympathie mit ihr nicht hatte.
Das Buch heißt wie das Steckenpferd des Professors, ein abseitiger Forschungsgegenstand, der ihn in unsichere Gewässer leitet und der ihn sogar bestechlich macht. Er sieht sich – integer wie er sich findet – allenthalben einer neuen, korrupten Generation gegenüber, die ihn so lächerlich findet wie er sie. Nur dass die Parameter der Rechtfertigung, die ihn und seine Auffassungen sein Leben lang geschützt haben, zu seiner Verwunderung nicht mehr gelten. Die Kritik spricht von akademischem Prekariat, für das Hein einen Prototypen geschaffen hat. Diese Prekarität betrifft bald die ganze Gesellschaft, so dass dieser Roman sich bei aller Spezialität doch einreiht in die Werke der Verunsicherung, die Hein in den vergangenen Jahren geschaffen hat: Willembrock, Das Napoleonspiel – auch hier gibt die Welt dem Protagonisten Rätsel auf, gefährdet ihn und führt ihn in Situationen, vor denen er sich zuvor gefeit geglaubt hatte. In WEISSKERNS NACHLASS sieht sich Stolzenburg schießlich vor die Wahl gestellt, sich mit einem seiner Studenten einzulassen, den er verachtet, bis er seine Geschichte hört. Nun muss er zwischen zwei moralischen Prinzipien entscheiden, an die er glaubt, abwägen muss. Das, ehrlich gesagt, findet man schon nicht häufig in der aktuellen Literatur. Im Ganzen wie stets bei Hein eine erfrischend solide Schule, nachgerade flott erzählt, mit fein gewürztem Humor und schmerzlicher Unausweichlichkeit, die sich über den Stefan-Heym-Preis und den wunderbaren Uwe-Johnson-Preis freuen kann.
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