Nähe
Am Morgen beim Verlassen des Hauses war es dunkel. Auf dem Weg zum Paul-Löbe-Haus stiegen in Rathenow die Tage seiner Kindheit wieder auf. Das frühe Aufstehen zur Schule in Herbst und Winter. Er erinnert sich genau des tauben Gefühls, das Gewohnheit und Routine angesichts der Ausdehnung der Dunkelheit in ihm auslösten. Eine Mutlosigkeit, Niedergeschlagenheit, der verzweifelte Versuch, an diesem vor ihm liegenden Tag irgendetwas zu finden, an das sich zu klammern wäre als an etwas Positives, etwas, das freudige Gefühle auslöst. Und nichts war da. Stattdessen die Notwendigkeit des Sportbeutels, des Fröstelns in zu leichter Kleidung in zu pragmatischem Neonlicht der zu öffentlich klingenden Turn- oder gar Schwimmhalle, das schattenlose Deckenlicht im Klassenraum, die aufdringliche Nähe zu vieler Mitleidender frontal vor einer Lehrkraft, überhaupt das Hinausgestoßenwerden in eine Welt der Widrigkeiten, das den Angriffen und Übergriffen Ausgesetztsein, das Wegreißen allen Schutzes. Der Horror der schieren Wiederholung, des Abarbeitens per öffentlicher Anordnung zu tuender Dingen, der autoritativen Substantivhäufungen im Deutschen. In der Bahn stieß ihm ein Handybesitzer seine Schirmspitze in die Kniekehle, und er bedauerte sich selbst wegen seines defekten Fahrrads. Bereits in Zeiten vor denen, die seine Erinnerung erreichte, hatten Institutionen ihm (wie anderen) die Unterordnung unter einen Ablauf schmerzhaft anerzogen. Diese Ahnung von Sterben schon als Kind hatte empfänglich gemacht für Mitgefühl für alle Zwangssituationen, die geschichtlich oder alltäglich begegneten, und das Infragestellen selbiger nicht nur ermöglicht, sondern geradezu unausweichlich eingebrannt. Grundsätzlich nicht einverstanden sein mit der Notwendigkeit dieser Art von Leid. Die Entscheidung der Täter nicht nachvollziehen können, das Gefühl niemals – auch im höheren Alter nicht – verlieren, dass das Leid anderer ihn persönlich anging und dass der von anderen als Menschen ihm angetane Zwang durchaus persönlich gemeint sein musste, immer mit dem Argument, dass diese Tätermenschen ihr Tun ja ebenso gut unterlassen könnten, wenn das für sie eine entscheidende Priorität wäre. War es aber eben nicht. Daher verantwortlich und schuldig. Er zwängte sich zwischen den nassen Regenhäuten hindurch aus der Bahn.
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