Logbuch 2.4: DIE SCHLAFWANDLER
DIE SCHLAFWANDLER S. 560
Das Buch setzt seinen Triumphzug durch die Landschaft meiner Leseerfahrung fort, während meine eigenen Versuche gaffend Spalier stehen.
Die bisherigen Figuren tauchen, entsprechend gealtert und ohne zu erläutern, wie sie hier gelandet sind, in dieser linksrheinischen Gegend Kurtrier auf. Esch ist Drucker, stets gnatzig, weil seine „Buchungen“ nicht aufgehen, die er der Welt in Rechnung stellt, während Major von Pasenow in Alter und Würde erstarrt eine längst vergangene Welt repräsentiert, die nichts mehr zu melden hat, nach deren Werten sich die Esch’sche Generation noch sehnt angesichts der komplett merkantilistisch orientierten Welt des neuen Protagonisten Wilhelm Huguenau. Natürlich ist dieser gleich am ersten Tag von der Front davonmarschiert in der Erkenntnis, dass es hier nichts zu gewinnen gäbe. Als Hochstapler möchte man den Betrüger nicht bezeichnen, schafft er doch qua Behauptung die Verhältnisse hinreichend genug, derer er bedarf für seine Geschäfte.
Wo Esch Buchhalter war, der die Welt im rechnerischen Gleichgewicht zu halten suchte, ist Huguenau Kaufmann, der Geschäfte macht, wo keine sind. Schon vom ersten zum zweiten Buch hin lichtete sich die Atmosphäre, und im dritten befindet man sich nun gänzlich in der leichten Helligkeit der neuen Zeit, wo die Geschäfte laufen, während wenige Kilometer westwärts artig gestorben und gemetzelt wird. Das ist aber schon keine Neuigkeit mehr, seit Jahren nicht, und diese nachhaltigen Entwicklungen bzw. Stagnationen zermürben noch den letzten Glauben an höhere Werte irgendeiner Art. Erst als sich die Marionetten nicht so bewegen, wie Huguenaus Pläne es ihnen zuschreiben, verschlechtert sich seine Laune.
Aber die erzählerische Atmosphäre lädt sich auf. Broch zeigt uns, wie das Thema, der Verfalle zu enger Traditionen, es auch literarisch nicht mehr aushält in der herkömmlichen Prosa. Erst fügt Broch weitere Erzählstränge hinzu: neben Huguenaus Machenschaften schaltet er die Erzählung der sehr wohlhabenden Hanna Wendling, deren Mann, als sie ihn kaum noch erwartet, tatsächlich doch von der Front heimkehrt; Broch berichtet von dem Geschäft der Lazarettärzte, die schon lange schlimme Materialisten sind; und schließlich gibt es noch die Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin, die unvermittelt aus der Perspektive eines ungeklärten Ichs berichtet und gelegentlich in Versen gesungen wird. Ein veritabler Essay wird in die Erzählung eingeflochten und erschließt die Thematik des Romans auch geisteswissenschaftlich. Ich bin mir nicht sicher, aber mir scheint auch in diesen Abschnitten, die gespickt sind mit Fremdworten und deren zentrale Gedanken, z. B. über das Verschwinden des Ornaments und damit des Lebens aus dem Stil der Epoche, manchmal nicht einfach zu verfolgen und zu fassen sind, ein Hauch von Ironie zu liegen, vielleicht gerade in den vielen Fremdworten, die etwas wie einen Schleier der Wissenschaftlichkeit über diese Gedanken legen wie eine kleine Maskerade.
Die Situation mit Esch, Huguenau und von Pasenow entwickelt sich zu einer Art opernhaftem Wechselgesang:
Das Kind deutete auf des Majors Brust: „Hier ist das Eiserne Kreuz.“
Der Major sagte: „Das Ehrenzeichen ist immer unsichtbar, bloß die Sünde ist sichtbar.“
Das Kind sagte: „Lügen ist die größte Sünde.“
Esch sagte: „Das Unsichtbare ist hinter uns her, wir kommen aus der Lüge, und wenn wir den Weg nicht finden, verirren wir uns in der Dunkelheit des Unsichtbaren.“
Das Kind sagte: „Niemand hört‘s, wenn man lügt.“
Der Major sagte: „Gott hört es.“
Huguenau sagte: „Niemand hört einen Deserteur, niemand kennt ihn, auch wenn er mit allem, was er spricht, recht behält.“
Esch sagte: „Keiner sieht den andern im Dunkeln.“
und endlich zu einem kleinen Theaterstück, bei dem Huguenaus Pläne nicht aufgehen und das höchst lustig in einer Art Oratorium endet:
„Unfähig, sich selber mitzuteilen, unfähig, seine Einsamkeit zu sprengen, verdammt, Schauspieler seiner selbst, Stellvertreter des eigenen Wesens zu bleiben, – was immer der Mensch vom Menschen erfahren kann, bleibt bloßes Symbol, Symbol eines unfaßbaren Ichs, reicht über den Wert eines Symbols nicht hinaus (…). Es wird daher niemandem Schwierigkeiten bereiten und wird höchstens der Kürze der Erzählung dienen, wenn man sich vorstellen wollte, wie das Ehepaar Esch zusammen mit dem Major und Herrn Huguenau sich auf einer Theaterszene befindet, in eine Darbietung verstrickt, der kein Mensch entgeht: als Schauspieler zu agieren.“
Dieses Format wird mit Überschriften noch ein wenig weiter getrieben, dann aber geschickt zurück in die Erzählerposition manövriert, ohne so offiziell zu enden, wie es eingeläutet wurde.
„Hinter manchen Fenstern brennt noch spärliches Licht, – was aber geht hinter den unbeleuchteten vor? Möglich, daß ein Toter dahinter liegt, auf seinem Bette ausgestreckt, die spitze Nase in der Luft, und das Laken macht ein kleines Zelt über den emporgerichteten Zehen. Sowohl der Major als auch Huguenau schauen zu den Fenstern hinauf, und Huguenau möchte gern den Major fragen, (…)“
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