Logbuch: DIE SCHLAFWANDLER von Hermann Broch
1.
Broch lesen ist überraschend. Die Romantrilogie DIE SCHLAFWANDLER von 1931/32 ist mein erster Eindruck überhaupt von ihm. Länger schon lag er auf dem Stapel zu lesender Bücher. Dann fiel in Knausgårds LEBEN sein Name irgendwo, und schon griff meine Hand als nächstes zu diesem Dünndruckwälzer. Auffällig im ersten Teil PASENOW UND DIE ROMANTIK ist die etwas altertümliche Sprache, in der Wörter wie „dessenungeachtet“ geläufig verwendet wären, als wären sie normal. Dieser Teil spielt 1880, und nun stellt sich mir in Unkenntnis der beiden Folgeteile die Frage, ist die Erzählsprache dem erzählten Zeitpunkt angepasst, oder hat Broch sich in den 30ern etwa noch dieser Sprache bemüht. Schwerpunkt der Handlung ist die moralische und psychologische Verkorkstheit und Befangenheit der Hauptfigur in geschlechtlichen Dingen, oder wie es wohl zur Zeit der Entstehung des Romans hieß: in Fragen des Triebs. Er ist gefangen in seinen anstrengend wirkenden moralischen Vorstellungen, die ihn weit fortbringen von seinem eigenen Wollen und Brauchen. Das Bild dieser Befangenheit ist seine militärische Uniform, die ihn wie eine Konservendose eckig einhüllt, nach deren Halt er sich aber fortwährend sehnt, während das „Zivilistische“ ihm auch und besonders in der Kleidung fortwährend Angst macht, unschicklich und sündig erscheint. Die Zerrissenheit zwischen seinem Wollen und Müssen bezeichnet die Handlung mit seinem Konflikt zwischen der launischen, nicht besonders intelligenten Ruzena aus Böhmen, mit der er eine leidenschaftliche Affäre beginnt, und der Baronentochter Elizabeth aus dem Nachbardorf, die ihm von Seiten des nervenkrank werdenden, manipulativen Vaters praktisch zur Ehe anbefohlen wird. An die Seite gestellt hat der Autor Pasenow einen Bertrand, der aus dem Militärdienst ausgeschieden und weitreisender Kaufmann geworden ist. Dieser spricht schmerzliche Wahrheiten sehr modern aus, ist frei von und steht über den moralischen, sozialen Banden, in denen Pasenow und Elisabeth schmerzlich und blind gefangen sind.
Die suhrkamp’sche Werkausgabe in Mattschwarz mit metallic-türkisfarbener Aufschrift gibt auch originelle typografische Eigenheiten wie die konsequente Kleinschreibung nach einem Fragezeichen wieder. Ansonsten sind die Rechtschreibfehler wohl eher auf einen flüchtigen Satz zurückzuführen, schätze ich.
Ein Blick auf die Buchbeschreibungen im Internet bestätigt, dass die Trilogie die wilhelminische Epoche und den Zeitenwandel zur Moderne an Beispielfiguren abbildet. Wie sie das tut – ich bin gespannt.
2.
Tatsächlich erweist sich im zweiten Teil ESCH UND DIE ANARCHIE, dass Broch die Sprache epochengemäß gestaltet hat. Sie hat hier schon den Durchbruch in die Moderne geschafft. Dass der Autor immer noch „dessenungeachtet“ schreibt und dass es mir aber jetzt kaum auffällt, erzählt mehr über die unangemessene Wahl meines Beispiels. In diesem Teil kämen Sätze wie dieser nicht vor:
Elisabeth blieb es nicht verborgen, daß der Eltern Leidenschaft, die verschiedenen Geschenkfeste des Jahres zu begehen, die Geburtstage zu feiern und ständig auf neue Überraschungen bedacht zu sein, eine tiefere Bedeutung besaß und mit der Freude, ja man konnte fast sagen Sucht, sich mit immer neuen Dingen zu umgeben, in einem tieferen, wenn auch schwer durchschaubaren Zusammenhang stand; zwar wußte Elisabeth nicht, daß jeder Sammler mit der nie erreichten, nie erreichbaren und doch unentwegt erstrebten lückenlosen Absolutheit seiner Sammlung hinauslangt über die gesammelten Dinge, in die Unendlichkeit hineinlangt, und daß er, aufgehend in seiner Sammlung, auch die Erreichung seiner eigenen Absolutheit erhofft und die Aufhebung seines Todes, Elisabeth wußte es nicht, aber umgeben von all den vielen schönen toten Dingen, die um sie angesammelt und aufgehäuft waren, umgeben von den vielen schönen Bildern, ahnte sie dennoch, daß die Bilder an die Wände gehängt waren, als sollten sie die Mauern verstärken, und als sollten all die toten Dinge etwas sehr Lebendiges bergen, vielleicht auch verbergen und schützen, etwas, dem sie selber so sehr verbunden war, daß sie manchmal denken mußte, es sei ein kleines Geschwister, wenn ein neues Bild gebracht wurde, etwas, was gehegt sein wollte und das die Eltern hegten, als ob ihrer aller Beisammensein davon abhängen würde: sie ahnte die Angst, die dahinter stand und die den Alltag, der das Altern ist, im Festlichen zu übertönen suchte, Angst, die sich immer wieder vergewisserte – stets neu erlebte Überraschung -, dass sie lebendig und geboren und definitiv beisammen waren und ihr Kreis ewiglich geschlossen.
Vielmehr ist es ein wunderbarer Spaß, mit dem Angestellten Esch einen Umzug von Köln nach Mannheim zu erleben und bald auch wieder zurück. Es fällt auf, das der allerdings sexuell ungleich aktivere Protagonist, für den die Fleischeslust an sich kein problematisches Thema ist (vielmehr ist der möglicherweise noch jungfräuliche Ladenbesitzer Lohberg ridikül), ebenfalls zwischen zwei Frauen abwägt, deren eine, wie Pasenow im ersten Teil die Elisabeth, ihm von deren Bruder peinlich deutlich anempfohlen wird. Allerdings ist er weniger Opfer seiner Gedanken, sondern eher ruhig abwägender, informierter Wähler, dessen kalkulierende Gedankengänge wir genau verfolgen. Ihn bewegt im Innersten sein Stolz. Schon gleich zu Anfang zeigt der Autor, dass der moderne Mensch schon seinen gleichwertigen Platz in der Gesellschaft beansprucht, während diese – immerhin noch im Kaiserreich – die Arbeiterbewegung, die sozialistischen Bewegungen, die Streiks mit Polizei und Handschellen ersticken kann. Das wird, wissen wir, nicht mehr lange so selbstverständlich möglich sein. Schon tut der Angestellte ohne Schmerzen den Schritt aus der Anstellung (im Handelsunternehmen des – bislang allerdings unsichtbaren Bertrand aus Teil Eins) heraus in eine unternehmerische, quasi freiberufliche Tätigkeit – in die soziale Unsicherheit hinaus also. Und hier gab nichts Größeres den Ausschlag als eine Kränkung durch Entlassung nach einer Verleumdung.
Gleichermaßen zeichnet sich der zweite vor dem ersten Teil durch vollkommen anders gestaltete Stellen aus wie meine bisherige Lieblingspassage, wo Broch ausgesprochen elegant die Entscheidung des Esch motiviert, auch diese Mannheimer Stelle – eindeutig eine karrieremäßige und finanzielle Verbesserung gegenüber der kölner Stelle – aufzugeben und zurück nach Köln zu ziehen:
Wieder wollte ihm irgend etwas nicht stimmen. Er hatte auf Ilona verzichtet, nun aber musste er zusehen, wie sich Erna von ihm abwandte und ihr Herz jenem Idioten anbot. Das war gegen alle buchhalterische Regel, die bekanntlich zu jeder Post ihrer Gegenpost verlangt. Allerdings – unternehmend schwenkte er den Rock in seiner Hand -, wenn er wollte, würde ein Lohberg ihn nicht so rasch ausstechen, mit dem nahm er es schon noch auf, nein, so eine arge Mißgeburt war der August Esch noch lange nicht, und er machte schon einige Schritte zur Tür hin, blieb jedoch stehen, ehe er öffnete: ach was, er wollte ja gar nicht. die Person dort drüben könnten sonst meinen, er käme aus lauter Dankbarkeit für ihre lumpigen tausend Mark zu ihr gekrochen. Esch ging zum Bett zurück, setzte sich und schnürte die Schuhe auf. Soweit war alles in Ordnung. Und dass es ihm im Grunde leid tat, nicht mit Erna schlafen zu dürfen, das war auch in Ordnung. Opfer ist Opfer. Trotzdem blieb ein ungeklärter Buchungsfehler übrig, auf den er nicht gleich kommen konnte: schön, man wird nicht zu dem Weibstück hinübergehen, man wird auf den Spaß verzichten; allein warum tat man dies? Etwa, um sich der Heirat zu entziehen? Man nimmt also das kleinere Opfer auf sich um dem wirklichen Opfer zu entgehen und nicht mit der eigenen Person bezahlen zu müssen. Esch sagte: „Ich bin eine Sau.“ Ja, eine Sau war er, keine Spur besser als der Nentwig, der sich gleichfalls der Verantwortung entzog. Eine Unordnung, in der sich der Teufel auskenne mochte!
Und ohne Ordnung in den Büchern gab es auch keine Ordnung in der Welt, und solange keine Ordnung war, würde Ilona weiter den Messern ausgeliefert sein, würde Nentwig sich weiterhin frech und gleisnerisch der Sühne entziehen und Martin würde ewig im Kerker schmachten. Er dachte scharf nach, und wie er jetzt die Unterhose fallen ließ, ergab es sich zwanglos: die anderen hatten ihr Geld dem Ringkampfunternehmen zur Verfügung gestellt, also musste er, der kein Geld besaß, nun eben doch mit seiner eigenen Person zahlen, zwar nicht durch Heirat, wohl aber, indem er sich dem neuen Unternehmen zur Verfügung stellte. Und weil dies bedauerlicherweise mit seiner Mannheimer Stellung unvereinbar war, so musste er eben kündigen. Auf diese Art konnte er zahlen. Und wie als Probe aufs Exempel erkannte er in diesem Augenblicke, daß er bei einer Gesellschaft, die Martin ins Gefängnis gebracht hatte, nicht länger bleiben durfte. Und keiner hatte das Recht, ihm deshalb eine Untreue vorzuwerfen; selbst der Herr Präsident wird einsehen müssen, dass der Esch ein anständiger Bursche ist. Jetzt dachte Esch nicht mehr an Erna, und er legte sich beruhigt zu Bett.“
Überhaupt verfolgen wir Eschs Motivationen und Gedankengänge viel näher als die der Personen im ersten Teil. Ein raffinierter Trick (siehe Knausgård), der dem Leser stets eine objektive Bewertung der Situation überlässt und ihn so eigentlich mündiger macht als der distanziertere Erzähler, der dem Leser eine Deutung der Ereignisse stärker aufnötigt.
3. — S. 342.
Broch beeindruckt weiter: für Esch löst sich die Sehnsucht nach eindeutig zuzuordnenden Gut-Böse-Strukturen nicht (mehr) ein, ebensowenig die Täter-Opfer-Dichotomie. Für ihn ist die Verhaftung des Sozialdemokraten und Gewerkschaftsaktivisten Martin Geyring bei einem Streik in Mannheim ein Opfer, und „wer sich opfert, ist anständig“ – was freilich nicht bedeutet, dass nicht „diese Sozialisten Schweine waren“.
Bei seinem Besuch im Gefängnis ist Martin aber guter Dinge und munter und ironisch und lacht ihn aus wegen seines heiligen Ernstes, mit dem Esch ihm erzählt, dass man den Unternehmer Bertrand, eigentlich töten sollte.
Und da Esch solcherart mit großem Haß der Welt gedachte und der Schweine, die man abzustechen hätte, wie es Schweinen gebührt, haßte er immer deutlichen den Präsidenten Bertrand, haßte ihn ob seiner Laster und seiner Verbrechen. Er versuchte, sich ihn vorzustellen, wie er in seiner Üppigkeit, eine dicke Zigarre in der Hand, auf Polstermöbeln an der Tafel des Schlosses sitzt (…).
Als er dann zu Bertrand geht, ist dessen Anwesen bescheidener als erwartet, der Mann normaler und freundlicher, und Esch selbst verwirrt und überhaupt nicht bereit, seinen absoluten Worten auch absolute Taten folgen zu lassen. Bertrand sitzt einfach freundlich und zeigt ihm den Garten und redet mit ihm und führt ihn hinaus und lässt ihn mit dem Wagen zum Bahnhof fahren, und diese erste Autofahrt Eschs ist sehr schön.
Da soll einer nicht verzweifeln, wenn die Kategorien derart durcheinander geraten, bzw. sich herausstellt, dass es sie nicht mehr gibt.
Irgendwo kam es eben nicht mehr auf die Menschen an, die waren alle gleich und es verschlug nichts, wenn einer im andern verfloß und der einen auf dem Platz des andern saß, – nein, nicht mehr nach guten und bösen Menschen, sondern nach irgendwelchen guten und bösen Kräften war die Welt zu ordnen.
Das sähe man heute sicher wieder anders, wo es darum geht, das fragwürdige System nicht zu stürzen, aber die individuellen Verbrecher genau zu identifizieren, leitet sich doch sonst daraus genau dies ab: „losgelöst vom Täter besteht das Unrecht und das Unrecht allein ist es, das gesühnt werden muß.“ – also eine Ideologie, die nach Gewalt, nach Opfer verlangt.
Aber mit der Moral ist es eben schwierig: einerseits regt Esch sich darüber auf, dass der Direktor des Schaustellerunternehmens darüber jammert, wie er sich schindet, indem er seine Gewinne in einem Heftchen ermittelt, während draußen der Frauenringkampf ihm diese Gewinne beschert, er eigentlich also diese Frauen schindet; andererseits bagatellisiert Esch den eventuell bevorstehenden Mädchenhandel, wenn es darum geht, damit seinen Traum der Auswanderung nach Amerika zu ermöglichen.
Zur Schilderung des länger angekündigten Kulminationspunktes von Eschs Besuch bei Bertrand greift Broch zum ersten Mal zu einem formalen Stilmittel: die betreffenden Absätze über sind in einer altertümelnden, biblisch oder traumhaft anmutenden Sprache verklärt, und jedem Absatz steht ein kursiver Absatz voran wie ein Motto:
Groß ist die Angst dessen, der erwacht. Er kehrt mit geringerer Berechtigung zurück und er fürchtet die Stärke seines Traumes, der vielleicht nicht zur Tat, wohl aber zu neuem Wissen geworden ist. Ein Ausgestoßener des Traumes, wandelt er im Träume.
Und ganz richtig wird hier dann auch zum ersten Mal das titelgebende Motiv des Schlafwandlers benannt: „die Sehnsucht des Mannes, in dessen Schlafwandeln die Welt vergeht“.
4. — S. 560
Das Buch setzt seinen Triumphzug durch die Landschaft meiner Leseerfahrung fort, während meine eigenen Versuche gaffend Spalier stehen.
Die bisherigen Figuren tauchen, entsprechend gealtert und ohne zu erläutern, wie sie hier gelandet sind, in dieser linksrheinischen Gegend Kurtrier auf. Esch ist Drucker, stets gnatzig, weil seine „Buchungen“ nicht aufgehen, die er der Welt in Rechnung stellt, während Major von Pasenow in Alter und Würde erstarrt eine längst vergangene Welt repräsentiert, die nichts mehr zu melden hat, nach deren Werten sich die Esch’sche Generation noch sehnt angesichts der komplett merkantilistisch orientierten Welt des neuen Protagonisten Wilhelm Huguenau. Natürlich ist dieser gleich am ersten Tag von der Front davonmarschiert in der Erkenntnis, dass es hier nichts zu gewinnen gäbe. Als Hochstapler möchte man den Betrüger nicht bezeichnen, schafft er doch qua Behauptung die Verhältnisse hinreichend genug, derer er bedarf für seine Geschäfte. Wo Esch Buchhalter war, der die Welt im rechnerischen Gleichgewicht zu halten suchte, ist Huguenau Kaufmann, der Geschäfte macht, wo keine sind. Schon vom ersten zum zweiten Buch hin lichtete sich die Atmosphäre, und im dritten befindet man sich nun gänzlich in der leichten Helligkeit der neuen Zeit, wo die Geschäfte laufen, während wenige Kilometer westwärts artig gestorben und gemetzelt wird. Das ist aber schon keine Neuigkeit mehr, seit Jahren nicht, und diese nachhaltigen Entwicklungen bzw. Stagnationen zermürben noch den letzten Glauben an höhere Werte irgendeiner Art. Erst als sich die Marionetten nicht so bewegen, wie Huguenaus Pläne es ihnen zuschreiben, verschlechtert sich seine Laune.
Aber die erzählerische Atmosphäre lädt sich auf. Broch zeigt uns, wie das Thema, der Verfalle zu enger Traditionen, es auch literarisch nicht mehr aushält in der herkömmlichen Prosa. Erst fügt Broch weitere Erzählstränge hinzu: neben Huguenaus Machenschaften schaltet er die Erzählung der sehr wohlhabenden Hanna Wendling, deren Mann, als sie ihn kaum noch erwartet, tatsächlich doch von der Front heimkehrt; Broch berichtet von dem Geschäft der Lazarettärzte, die schon lange schlimme Materialisten sind; und schließlich gibt es noch die Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin, die unvermittelt aus der Perspektive eines ungeklärten Ichs berichtet und gelegentlich in Versen gesungen wird. Ein veritabler Essay wird in die Erzählung eingeflochten und erschließt die Thematik des Romans auch geisteswissenschaftlich. Ich bin mir nicht sicher, aber mir scheint auch in diesen Abschnitten, die gespickt sind mit Fremdworten und deren zentrale Gedanken, z. B. über das Verschwinden des Ornaments und damit des Lebens aus dem Stil der Epoche, manchmal nicht einfach zu verfolgen und zu fassen sind, ein Hauch von Ironie zu liegen, vielleicht gerade in den vielen Fremdworten, die etwas wie einen Schleier der Wissenschaftlichkeit über diese Gedanken legen wie eine kleine Maskerade.
Die Situation mit Esch, Huguenau und von Pasenow entwickelt sich zu einer Art opernhaftem Wechselgesang:
Das Kind deutete auf des Majors Brust: „Hier ist das Eiserne Kreuz.“
Der Major sagte: „Das Ehrenzeichen ist immer unsichtbar, bloß die Sünde ist sichtbar.“
Das Kind sagte: „Lügen ist die größte Sünde.“
Esch sagte: „Das Unsichtbare ist hinter uns her, wir kommen aus der Lüge, und wenn wir den Weg nicht finden, verirren wir uns in der Dunkelheit des Unsichtbaren.“
Das Kind sagte: „Niemand hört‘s, wenn man lügt.“
Der Major sagte: „Gott hört es.“
Huguenau sagte: „Niemand hört einen Deserteur, niemand kennt ihn, auch wenn er mit allem, was er spricht, recht behält.“
Esch sagte: „Keiner sieht den andern im Dunkeln.“
und endlich zu einem kleinen Theaterstück, bei dem Huguenaus Pläne nicht aufgehen und das höchst lustig in einer Art Oratorium endet:
Unfähig, sich selber mitzuteilen, unfähig, seine Einsamkeit zu sprengen, verdammt, Schauspieler seiner selbst, Stellvertreter des eigenen Wesens zu bleiben, – was immer der Mensch vom Menschen erfahren kann, bleibt bloßes Symbol, Symbol eines unfaßbaren Ichs, reicht über den Wert eines Symbols nicht hinaus (…). Es wird daher niemandem Schwierigkeiten bereiten und wird höchstens der Kürze der Erzählung dienen, wenn man sich vorstellen wollte, wie das Ehepaar Esch zusammen mit dem Major und Herrn Huguenau sich auf einer Theaterszene befindet, in eine Darbietung verstrickt, der kein Mensch entgeht: als Schauspieler zu agieren.
Dieses Format wird mit Überschriften noch ein wenig weiter getrieben, dann aber geschickt zurück in die Erzählerposition manövriert, ohne so offiziell zu enden, wie es eingeläutet wurde.
Hinter manchen Fenstern brennt noch spärliches Licht, – was aber geht hinter den unbeleuchteten vor? Möglich, daß ein Toter dahinter liegt, auf seinem Bette ausgestreckt, die spitze Nase in der Luft, und das Laken macht ein kleines Zelt über den emporgerichteten Zehen. Sowohl der Major als auch Huguenau schauen zu den Fenstern hinauf, und Huguenau möchte gern den Major fragen, (…)
5. — S. 700
Ein großer Sprung, während dessen Huguenau erfolgreich versucht hat, den Major v. Pasenow und den Drucker Herrn Esch gegeneinander auszuspielen, sobald sich eine Allianz im Glauben zwischen den beiden von der Moderne eingeholten und gebeutelten Gestalten zu bilden begann, die seinen Interessen zuwiderlief. Im November kommt es im kleinen Städtchen dann zu einer umstürzlerischen Revolte, das Gefängnis wird geöffnet, die Gefangenen befreit, das Rathaus niedergebrannt, jedoch können die Unruhe, die nach diesem Brand geschockt anhalten, mit aus Trier herangeholten Truppen gestoppt werden. Die Situation hat Huguenau jedoch nicht nur dazu verwendet, sich seines Widersachers Esch zu entledigen und dessen Verdienste um das Leben des Majors sich selbst zugute zu halten, sondern auch der gesamten instabilen Situation nach der Kapitulation des deutschen Reiches in seine colmarische Heimat zu entkommen und sein gutbürgerliches Leben wieder aufzunehmen.
Broch schafft es also am Ende des Romans, die prototypisch aufgestellten Positionen der wilhelminischen Epoche zusammenzuführen und zu konfrontieren, wobei derjenige unter die Räder gekommen ist, der sich mit der alten Situation nicht mehr und der neuen noch nicht hat arrangieren können, der die zerfallenden Werte noch herbeigesehnt, aber nicht mehr gefunden hat.
Formal wird der Abstand des Erzählers zu seinen Figuren immer größer, aber auch die verschiedenen aufgeführten Formate fließen zunehmend zusammen. Im zehnten Teil der „Exkurse“ mit dem Titel „Zerfall der Werte“, der auch als Epilog bezeichnet ist, beschreibt der Autor schon eingehend die Position seiner Figur Huguenau anstatt, wie zuvor, abstrakte ästhetische, moralische, oder philosophische Aspekte des Zeitenwechsels.
Es war alles gut. (…)
Hat er einen Mord begangen? hat er einen revolutionären Akt vollführt? Er brauchte darüber nicht nachzudenken und er tat es auch nicht. Hätte er es aber getan, er hätte bloß sagen können, daß seine Handlungsweise vernünftig gewesen war (…).
Auf seine spezielle, genaue, aber auch einer Ironie nicht entsagenden Art vermag Broch es hier am Ende weiterhin, uns noch einige Gedanken über den Wert dieser „Werte“ mitzugeben, indem er erläutert, wie all diese Glaubens- und Narrationssysteme (im Sinn von Harari) nur dazu dienen, unsere irrationalen Handlungen abzusegnen und in einen sinnvollen Kontext zu stellen. Dass dieser sich von jetzt auf gleich widersprüchlich ändern kann, tut dem Zweck des Vorgangs keinen Abbruch. Schließlich gehe es eben nicht um Schlüssigkeit oder Logik, sondern um Beruhigung und Sinnhaftigkeit im Moment.
Einer Autorin und einem Autor stellt sich in der Komposition des Buches stets die Frage, wie die Leserschaft mit ihren oder seinen Gedanken möglichst direkt anzusprechen sei, ohne ihr aber den Spaß an und die Erwartung auf die sinnliche Erfahrung von Handlung, Figur etc. vorzuenthalten.
An den SCHLAFWANDLERn beeindruckt vor allem die Dringlichkeit, mit der Broch seine vielen Gedanken dem Leser sowohl in essayistischer und zuweilen vielleicht auch anstrengender Form theoretisch vorträgt und außerdem aber eine Handlung zu gestalten vermag, die den Ansprüchen an eine fiktionale Prosa vorderhand genügt (wenn sie diese Erwartungen auch explizit unterläuft). So nutzt er die dem Genre eigene Sinnlichkeit, seine Gedanken dem Leser auch exemplarisch und damit noch – sagen wir – dreidimensionaler deutlich machen, ohne die Illusion der Figuren und Handlung aber je vollkommen die Oberhand gewinnen zu lassen. So enden die ersten beiden Teile nicht etwa mit dem Ende der jeweils erzählten Begebenheit, sondern mit dem Ende des zu vermittelnden Gedankens und dem Hinweis, dass das Leben dieser Figuren nun so und so weiterginge:
Es geschah eben. Wie sich das zugetragen hat, muß nicht mehr erzählt werden. Nach den gelieferten Materialien zum Charakteraufbau kann sich der Leser dies auch allein ausdenken.
Das Glanzstück dabei ist selbstverständlich, dass die gewählte, sich allmählich auflösende Form das Thema widerspiegelt bzw. sich aus ihm begründet. Dies geschieht gerade so viel auf Kosten des Stoffs und Inhalts, dass dem Leser noch genügend Vergnügen bleibt, jedoch die Fadenscheinigkeit der Illusion dieses Vergnügens auch schon aufgezeigt wird. Damit – und so schließe ich die Lektüre der SCHLAFWANDLER – wird der Leserin und dem Leser die Klugheit und Intelligenz zugesprochen, die ihnen gebührt. Mit weniger möchte man sich kaum zufrieden geben.
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