A Whiff o‘ the Liffey
Die ersten Schritte in Dublin führten den Touristen zum Fluss, an die Achse der Stadt. An der brusthohen Mauer der südlichen Quays entlang ging er mit der Strömung stadteinwärts. Er und der Fluss ruhig gegen die lärmenden Mobile, die sich entgegen stauten. Er nahm seinen Anfang in ihr, wo sie zunächst entstanden war: Handelslager der von Osten übers Meer in der Flussmündung Landenden.
Fremd in der Stadt hatte er zuerst Augen für das, was sich ihm von fern vermittelt hatte: angelesene Vorstellungen von einer Literatenstadt, ein einheitliches Bild. Aber jenseits von Wellington und Aston Quay, neben denen er sich entlang schlängelte, vorbei an der Ha‘ Penny Bridge, waren die Gassen, Läden und Cafés des Temple Bar Viertels das Wimmeln und Regen einer neuen Dubliner Generation, auferstanden aus den Ruinen jenes Altertums, das längst bloß noch für Touristen existierte. Aber das wusste er erst zwei Tage später und war hier froh und überrascht, als zwischen dem atemberaubenden Ausgepuffe einmal, wie heimlich darunter gemischt, eine salzige Brise vom algigen Fluss heraufwehte und anzeigte: die Irische See ist nicht fern.
Sein Gastgeber war ein Autor, dessen Theaterstück er übersetzt hatte; das war aber eine lose Verbindung, und neben dem Wenigen, das zu tun er sich vorgenommen hatte, war er vor allem bemüht, den Gastgebern nicht allzu sehr zur Last zu fallen, die sich so freundlich um ihn bemühten, dass es ihn beschämte. Ihr Lebensstil hatte ihn erst überrascht: Jimmy, dessen Frau Mary, die kleine, rothaarige Cloë und ein winziges Kindlein, dessen Namen er nicht verstanden hatte, hatten spürbar mehr als genug damit zu tun, im teuren Dublin über die Runden zu kommen. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Sie hatten hart zu arbeiten, und an Jimmys schüchtern sprossender Literatenkarriere hing das Familienheil.Umso unbedingter musste er ihr Entgegenkommen annehmen, indem die Familie mit ihm ans Meer fuhr oder Mary unermüdlich auf seine Fragen zur Renaissance der gälischen Wurzeln antwortete. Daher hatte er auch den Namen des Kindes nicht verstanden: er war gälisch. Sie vertieften sich in englische Gespräche über sprachliche Absonderlichkeiten und den Kampf der Iren für eine Präsenz ihrer Sprache im Leben, über welche Korrektur falscher Verhältnisse sich das neue Irland zu definieren versuchte. Ihr Bestehen auf der Differenz zum Englischen, der linguale Angriff auf die herrschende Selbstverständlichkeit war der Versuch, die selbstverständlich Herrschenden zu entthronen. Nicht dieser Kampf war neu, nur die Schlacht eine heutige, während die Relevanz der Ausdrucksweise schon jene Literaturen geprägt hatte, die wiederum sein löchriges Dublinbild geschaffen hatten. Neu war die offene Alltäglichkeit, mit der sich nach dem Aufweichen der britischen Krone, nach den länger als trojanischen Kämpfen um Unabhängigkeit und nach den peace talks der Deckel der Besatzung ein wenig gelüftet hatte.
Ein schlechtes Gewissen hatte sich eingeschlichen. Da war der Gastgeber, dem seine Gegenwart offenbar eine Last war, mitten im Lebenskampf; hier er, tatenarm, gedankenvoll, ein Elitetourist, der sich nicht mal etwas ansieht. Er versuchte, Jimmy die Rolle bald wieder zu nehmen, die er ihm so ungefragt auferlegt hatte, und ging allein durch die Straßen. Dublin ist klein, er konnte den Stadtkern beruhigt zu Fuß durchwandern, Verlaufen war unmöglich.
In Cafés saß er lesend, schreibend und Kaffee trinkend. Schnell waren die Stimmen, die ihn drängten, von der kostbaren Zeit – immerhin einmal in Dublin – doch besseren Gebrauch zu machen, zum Schweigen gebracht: Wie nutzt man eine Kostbarkeit besser als indem man sie auskostet? Ringsum begleitete ein Konzert von Mobiltelefonen Dublins Spurt in die späten 90er, während er aus nächster Nähe unentgeltlich wildfremde Menschen ungeniert beobachten konnte, bis sie ihm fast vertraut wurden vom bloßen Zuschauen und Zuhören, soviel ist aus Gesten und Verhalten zu erfahren. Der Mann im hellen Anzug kennt sein Gegenüber noch nicht so genau und ist zögerlich. Warum fühlt jene Frau sich unwohl, wippt mit den Knien? Woran arbeiten die drei Menschen, die seit einer Dreiviertelstunde an dem Ecktisch sitzen, über Papiere gebeugt, und bereits den dritten Kaffee trinken?
An Tischen in Cafés lag alle Aufmerksamkeit auf den banalen Dingen. Das Geschehen sinkt ihm stets nur allmählich ins Bewusstsein, der Wunsch, gründlich verstehen zu wollen, steht dem besseren Verständnis im Weg. Dann wieder auf den Straßen war der Tourist in Bewegung bis zur Erschöpfung, lief sich gehörig Blasen durch alle Viertel, Treppen hinauf und hinunter, hinüber und herüber über den Fluss und war nur noch Atem und Beine. In dieser Bewegung auf den Straßen formte sich Sinn aus dem Gesehenen, aus dem Gehörten. Die Entfernung von der Heimat als auch von dem eben Bemerkten, ja die stetige Entfernung vom eigenen Fuß beim Gehen verhinderte eine wirkliche Beteiligung, sie entzog den Betrachter dem gründlichen Eindringen zugunsten einer besseren Übersicht.
Wie in Berlin war der Zeitenwechsel auch in Dublin Angelegenheit des Hoch- und Tiefbaus sowie der immer besseren Übertragungstechniken. Die Wurzeln der Vergangenheit werden nicht mehr überbaut, sondern gleich ausgerissen und ersetzt, die Archäologie wird gegenstandslos. Troja oder Rom wären heute unmöglich, jeder Altersring wird erst beseitigt, dann der folgende an die Stelle des alten gesetzt, anstatt daran oder darüber. Spuren werden beseitigt, Wissen wird vernichtet. Bei immer genauerer Dokumentation der Jetztzeit wird sie tatsächlich umso gründlicher ausgelöscht. Die Beschleunigung ist Mord an der Geschichte, letztlich am Menschen. Der Aufbruch ein Abbruch, während der Abriss als Auftakt verkauft wird. Er umschiffte das Südschiff der St.-Patrick-Kathedrale, und ihm kam es vor, als wäre er in der Fremde mehr zuhause als daheim.
Am dritten Tag schlich er sich auf dem Trinity College Campus immer weiter vor, bis er sich inmitten der dorms, der Studentenwohnheime wiederfand, die klassischerweise auf dem Collegegelände angesiedelt waren, unbeschwert wandernd fast in der Studenten Schlafzimmer hinein. Hier erst verlor er die Orientierung. Ausgerechnet auf dem begrenzten Campus der Universität, diesem Ort der Reflexion, des Studiums und Wissens, verlor er das Wissen über seine Position. In dieser akademischen Festung gegen den niederen Lauf der Welt, unter dessen gleichgültigen Rädern Wissen zermürbt wird, wird eingedenk der Altvorderen in legendären Bibliotheken Wissen konserviert. Ein wahres Museum mit historisch irischen Mementi bewahrt die Geschichte, damit die Erinnerung an die Antwort auf die Frage: Woher kommen wir?, die zur anderen: Wer sind wir? unmittelbar hinleitet. Der Tag war aber schön, er wollte in kein Museum. In Rom wird ihn die schwüle Hitze ins museo vaticano gerade hineintreiben; Irland schätzt die raren Strahlen höher. Er ging an Stephen’s Green vorüber, und ein Bild verband sich mit dieser Ecke des Parks: Beckett teilt seiner Hauswirtin mit, dass er diesen Tee (er gibt ihn ihr) lieber trinkt als jenen (war es Sencha statt Lipton?). Er hatte sich eine jüngst erschienene Biographie gekauft und las darin und war irgendwie der Meinung, dass die Szene sich gleich in der nächsten Nebenstrasse abgespielt haben müsste. Ein Streich des Gehirns; schlimmer der Irrtum, dass er irgendwie Genie erlangen würde, tränke er nur genug von genau diesem Tee. Natürlich war nicht mit Sicherheit herauszubringen, um welchen es sich nun wirklich gehandelt hatte. Natürlich spielte es auch keine Rolle, aber Kobolde finden die streunenden Gedanken des ziellos Wandernden und verstricken ihn in sonderbare Bilderwelten. In der schmucklosen Herberge fand sich das beste Gegenmittel. Hier traf er nicht gerade Lokaltypisches im Überfluss. Erbärmliches Frühstück, schlechte Getränke, Menschen von überallher. Derlei Prosa verscheuchte die örtlichen Richtungslosigkeiten. Aber hier musste man sich Fragen aussetzen, musste etwas über sich erklären. Ihm war unwohl dabei, und bald merkte er, welchen Sinn die ganze Reise hatte: Dublin sollte ihn einlullen und gefangen nehmen. Er sollte die Orientierung verlieren, sollte – auf engem Terrain kreisend – ein Gefühl bekommen wie den kleinen Rausch, der einen bei Blindekuh befällt, wenn die anderen einen blind herumdrehen, während sie sich verstecken. Der Suchende wird gedreht, damit er die Orientierung verliert und nicht benutzen kann, was er von seiner Position noch weiß, während die anderen um ihn herum verwirrende Geräusche machen und schnell woanders hinspringen, sobald er dem Geräusch folgt. Die Rolle des Häschers ist die ertragreichste: sie bringt für Momente ein anderes Wahrnehmen: eines ohne Vorwissen. So brachte Dublin mangels treffenden Vorwissens eine kleine Xenophorie, den Rausch des Fremden, vor welchem Hintergrund das Reale klar hervortritt, das Gewusste aber erbarmungslos verblasst, wenn es sich an den Gegebenheiten nicht neu bestätigt. Die offeneren Augen angesichts des neu zu Sehenden waren der Ertrag dieses kleinen Trips. To trip in der Sprache der angelsächsischen Okkupanten bedeutet Stolpern, und der Untauglichkeit des herkömmlichen Trotts angesichts der neuen Wegbeschaffenheit (metaphorisch gesprochen) verdankte er das neuerliche Überdenken des schon allzu sehr zur Gewohnheit gewordenen Vorwärtsschreitens. Dublin war ein willkommener Stein auf unangenehm bekanntem Weg.
Die kleine Cloë war die Tage über immer zu ihrer Mutter geflohen und hatte sich hinter ihrem Rock versteckt, sobald er in der Tür stand – wenn die Mutter einen Rock trug. Als er sich am vierten Tag verabschiedete, freute ihn Cloës Winken im davonfahrenden Auto sehr. Im übrigen dankte er Herrn Bertolt Brecht für das Gedicht Verhalten in der Fremde und war gewiss: in Dublin war er nicht zum letzten Mal gewesen. Die Brise vom Fluss war ihm ein Rückenwind.
Berlin, April 2003
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