Morgens
Im Grunde –
Jedem Versuch, etwas im Grunde zu fassen, folgen nur unendlich viele weitere, die auch alle mit Im Grunde anfangen, und doch liegt der Grund stets noch viel weiter unten.
Im Grunde –
Der Hochsommer liegt über der Stadt wie ein – na schön, lieber kein Hochsommervergleich. Er liegt eben über der Stadt. Wir, jung bis noch nicht auf der Lebensmitte, sitzen mittendrin beim Frühstück, reden mit vollen Mündern.
Im Grunde –
Die Zeitung hat uns zu diesem Gespräch angestiftet, glaube ich. Ein kostenloses Probeabo. Ich halte mich mit einer ununterbrochenen Folge dieser Abos ganzjährig über Wasser und surfe sozusagen auf der Marketingwelle verschiedener mir genehmer Tageblätter.
Wir sitzen eher nackt als bekleidet, noch nicht recht wach, aber schon wechseln wir uns ab im morgendlichen Versuch, möglichst umfassende Gedanken zu formulieren, immer weiter gefasste Aussagen über Abläufe und Zustände und Übergange von einem zum anderen.
Im Grunde ist es doch so –
Wir sprechen natürlich nur über uns selbst, aber wir legen Grundsteine für Gemeinsamkeiten und tasten anhand von Gesprächsvorschlägen der jeweiligen Redaktionen die Unterschiede ab. Irgendwann tauschen wir die Teile Politik und Feuilleton, und es wird kurz still. Wir holen jeder den Vorsprung des anderen im Fachgebiet auf – nein, das stimmt nicht. Klingt gut, stimmt aber nicht. Wir missachten vollkommen, was der andere gelesen hat, bzw. interessiert es uns nicht, was der andere gelesen hat, und wir gestalten unseren eigenen Lesepfad durch das schon vom anderen anders durchwanderte Gelände. Manchmal widersprechen wir uns auch, und dann lassen wir es wieder, weil es zu anstrengend wird und zu ernsthaft. Sich zu dieser Stunde über Dinge aufzuregen, die uns nur mittelbar angehen, war unnötig, und wenn sie oder ich es doch tun, dann nur, um die aktivere Haltung für den kommenden Tag schon einmal auszuprobieren, also aus sportlichen Gründen sozusagen, und sportlich, wie wir sind, gibt der andere natürlich Hilfestellung, jedenfalls für kurz.
Also im Grunde heißt das doch –
Wir haben schon über aktuelle Kriege und Verhandlungen, über Gipfeltreffen und Wahlkampftaktiken, über Warenteste und Kaufvorhaben, über Mehrwert und Urlaubsvorschläge gesprochen. Auch vor ein paar Tagen schon, immer wieder kommt das vor, wenn die Sonne eben ins Küchenfenster scheint und wir schon unsere Haut hinhalten können für ein besseres Morgen oder mit Sarkasmus für ein schlechteres. Aber uns geht es ja gut, so ist es ja nicht. Uns geht es schon lange gut, eigentlich ist es uns noch nie schlecht gegangen. Also nicht wirklich, nicht ganz und gar und auch nicht lange und auch nicht übergreifend, also kollektiv, also als Volk zum Beispiel, was immer das auch heißt. Überhaupt, das mit den Nationen, das ist doch auch mal vorbei jetzt, wie lange soll denn dieser kleinliche Hickhack und diese fiktive Trennung noch weitergehen. Das sind doch alles Altlasten, wie die Einrichtung einer religiösen Verbindung als privilegiertem Status, zum Beispiel. Unser Land, andere Länder, das rattert so halbgar zwischen Toast und Milchkaffee hindurch, bis wir für wichtigere Dinge wach genug waren.
Im Grunde –
können wir ja nur so lange bei einem Thema bleiben, wie wir darüber etwas zu sagen haben. Ein anderes Spiel ist dann auch, zu entdecken, wovon wir denn keine Ahnung haben. Also wirklich eigentlich nichts wissen. Was ist denn dieses Programm dieser Partei eigentlich zu diesem Thema, was meinen die denn mit diesen Stichworten. Und dann ist immer die Politik doch neblig zum Beispiel, weil solche Fragen zu Details unserer Meinung nach niemand weiß. Selbst das politische System auch nur im Groben zu umreißen, das gelingt uns nach eineinhalb Sätzen schon nur noch fragmentarisch, aber wir können ganz schön viele Fremdworte wahrscheinlich weitgehend richtig verwenden, und einige unserer Freunde machen daraus so etwas wie ihre eigene Sprache, indem sie sich immer möglichst verstellt ausdrücken, mit dem Ziel vielleicht (das nie formuliert wird), möglichst viele ungewöhnliche Wörter zu verwenden, die niemand jemals verwendet. Welch ein Spaß, auf der Liste der aussterbenden Wörter den Begriff „Behuf“ zu entdecken und in der folgenden Woche sich damit zu beschäftigen, diesem Wort nach Kräften wieder in den Sprachgebrauch zu verhelfen. Überhaupt: anstatt dann den entstandenen Fragen wie zum Beispiel der nach dem politischen System ein für alle mal befriedigend auf den Grund zu gehen, werden lieber neue Spuren aufgetrieben, die ebenfalls dann nicht oder nicht lange verfolgt werden. Antworten gibt es fast nie. Dafür aber auch ständig wieder neue Versuche, gültige Statements zur Lage des Universums zu machen:
Im Grunde hat doch jeder eigentlich –
Dazu kommt natürlich unvermeidlich der Tritt nach unten. Ist Lewis Carroll Engländer oder Amerikaner gewesen? Wir wissen ja sicher, dass niemand sich solche Fragen stellt, wenn so viele schon die Stones für eine US-Band halten. Klar ist außerdem, dass Sport scheiße ist. Und Autos. Und so weiter. Auch wenn Antworten nicht gefunden werden, wir folgen blind dem von irgend jemandem (na, von wem?) aufgestellten Diktum (anstatt Hypothese), dass es mitnichten (anstatt einfach nicht) um Antworten geht, sondern selbstredend (anstatt natürlich) nur um Fragen. Das in bezug auf Filme, Literatur, einfach Kunst allgemein. So fällt gegebenenfalls unser Leben am Frühstückstisch auch unter Kunst, Untergattung Happening.
Im Grunde hat es doch seit der Industrialisierung keine wesentliche Veränderung mehr gegeben, also eine, die unser Sein essentiell und im Großen verändert hätte. Und bis zur nächsten solchen Veränderung sind es sicher noch einige hundert Jahre. Darauf warten wir jetzt mal schön.