Ein bisschen Schwund
Young Jean Lees The Shipment im HAU
In der vergangenen Woche hat das HAU Young Jean Lees Inszenierung ihres eigenen Stückes The Shipment eingeladen und im Hebbel-Theater gezeigt. Die Inszenierung war in New York überaus erfolgreich und ist in der Folge quer durch die USA getourt – ein absoluter Hit in der Spielzeit 2008/2009. Auch beim Zürcher Theaterspektakel war sie bereits zu sehen. Nach Berlin kam die Produktion geradewegs aus Paris, und im Februar ist sie schon wieder am Thalia in Hamburg.
Ich war von der strengen Komposition und gründlichen Dramaturgie der Arbeit sowie von den wunderbaren Schauspielern sehr beeindruckt, glaube aber, dass die Produktion durch ihren extrem genauen Zuschnitt auf ein (bestimmtes?) US-Publikum für ein deutsches Publikum nicht leicht zu entschlüsseln ist.
Das Stück hintergeht us-amerikanische Sehgewohnheiten. Wir sehen einen Abend in vier Teilen: einen Tanz zur Einleitung; einen Alleinunterhalter mit einem Riesenmonolog; eine Art Comic-Lebensskizze im Zeitraffer; schließlich eine Art Gesellschaftsdramolett mit Twist. Es gab bereits eine Reihe von Kritiken. Die New York Times schrieb: „Die Show ist provokant, aber in keinem Moment polemisch, und angenehm eklektisch.“ Hier geht es daher eher um die Transponierbarkeit dieser speziellen Produktion.
Während ich mich nach der Vorstellung wenig berührt fühle, wird der Abend desto vielschichtiger, je genauer ich hinschaue. Allerdings steckt hier gleich eine Grundfrage und ein Grundproblem des Exportes dieser Arbeit ins nichtamerikanische Ausland. Der Clou des ganzen Abends liegt in den Sehgewohnheiten, der vorurteilsbeladenen Wahrnehmung des Publikums. Jeder der vier Teile spricht den Zuschauer auf diskriminierende Ansichten an, von denen niemand frei sein kann und auf die immer und immer wieder hinzuweisen die notwendige Arbeit eines sinnvollen Sisyphos sein muss.
Der virtuos gestaltete Tanz zu Beginn überrascht die Erwartung an Sprechtheater mit Rassismusthematik. Die Choreographie zitiert Elemente des so genannten Minstrel, einer spezifisch us-amerikanischen Form der Unterhaltung, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm und bis zur vollständigen Abschaffung der Rassegesetze 1964 populär war: weiße Entertainer färbten sich die Gesichter schwarz und karikierten tanzend Schwarze in ihren vermeintlichen Eigenarten. Nichtmal die Musik war die der Schwarzen. Paradoxerweise gestattete diese Art der Unterhaltung afro-amerikanischen Künstlern, die Auftrittsbeschränkungen zu umgehen, weil das Publikum oft nicht merkte, dass unter der schwarzen Schminke die Haut wirklich dunkel war. Man kann sich schwer ausmalen, wie erniedrigend diese Tätigkeit war.
Es ist davon auszugehen, dass Zitate der Minstrel-Form in den USA, obschon seit mehr als einhundert Jahren vergangen, so gut erkannt werden wie in Deutschland der Duktus judenfeindlicher Unterhaltungsformen auf der Bühne erkannt werden würde. Ohne diese Information sehe ich bloß schönen Tanz.
Als nächstes überschüttet uns Douglas Scott Streater mit Schwarz-Weiß-Witzen im Entertainmentformat – ein einziger Tabubruch. Säuglinge werden erschlagen, Inzest wird propagiert, von Analsex bis Sex mit Tieren wird die Klaviatur hoch und runter gespielt. Der Entertainer gibt zu, dass er im normalen Leben nicht so spricht, traut sich aber nicht, die Rolle fallen zu lassen, weil er Angst vor den Reaktionen seiner Freunde hat. In den einleitenden Sätzen spricht der Darsteller das Publikum auf die ethnischen Minderheiten am jeweiligen Spielort an. Jeder hätte seine Schwarzen: nur würden sie in Berlin eben Türken genannt.
Nun sind die Parameter Witz und Tabu kulturell sehr spezifisch gelagert und nicht einfach dadurch zu transponieren, dass in den einleitenden Sätzen die auffälligste ethnische Minderheit am jeweiligen Spielort aufgerufen wird: Tamilen in Zürich, Türken in Berlin, Araber in Paris. Dazu ist die jeweilige Problematik zu spezifisch, und wenn Tamilen in der Schweiz schon gesellschaftlich anders positioniert sind als Türken in Berlin, so gibt es sicher einen großen Unterschied beider zur Bevölkerungsgruppe der Afro-Amerikaner in den Vereinigten Staaten. Es muss nicht gesagt werden: die Türken in Berlin sind in erster, zweiter oder bereits dritter Generation Einwanderer aus der Nachkriegszeit, als Deutschland im Zuge des Wirtschaftswunders in den 60-ern dringend Arbeitskräfte in der erblühenden Industrie benötigte. In dieser Zeit wurden auch Griechen und Italiener eingeladen, in Deutschland zu arbeiten, sie waren „Gastarbeiter“. Ein Vergleich mit dem Bevölkerungsanteil der Afro-Amerikaner in den Vereinigten Staaten, deren Vorfahren früher und zwangsweise als Fracht (sic!) importiert wurden, bedeutet eine Banalisierung des ungeheuerlichen Sklavenhandels und die Rassentrennung, die seither die Entwicklung des Landes kennzeichnet. Ähnlich falsch wäre es, die speziellen sozialen Belange von Afro-Amerikanern denen von mexikanischen Einwanderern in den Vereinigten Staaten gleichzusetzen. Sicher, mag man sagen, aber hier geht es darum, die Aufmerksamkeit des Publikums auf eigene rassistische Vorbehalte und Denkmuster zu lenken. Zum Zwecke einer differenzierten Sichtweise sollte genau diese nicht unter die Räder kommen, meine ich. Die Inszenierung ist mit äußerstem Feingefühl auf das US-Publikum kalibriert. Auf die Gefahr hin, der Inszenierung ins erste Netz gegangen zu sein, halte ich die Entscheidung, auf lokale Problematiken am jeweiligen Spielort hinzuweisen, für ungenau.
Teil drei: die urkomisch erzählte Geschichte von Omar, der das Klischee der Laufbahn eines afro-amerikanischen Unterprivilegierten durchläuft. Er will Rapper werden, Drogenkarriere, Knast. Ein paar Freunde sterben, und am Ende bereut er sein hässliches Leben. Die Spielweise ist hier eine beeindruckende Art von Southpark on stage. Klar, dass diese überraschende Spielweise das Publikum gefangen hat. Das darf aber scheinbar doch so nicht stehen gelassen werden, denn es folgt ein sehr langes pädagogisches Schweigen wie bei Kindern, deren Überschwänglichkeit mit geduldigem Blick abgewartet wird. Eine Schauspielerin verriet mir nach der Vorstellung, dass das durchaus genau so gemeint ist. Unangenehm, dass das unangenehm sein soll. Wunderbar dann wieder aus dem Schweigen heraus das A-Capella-Trio mit einem Titel von Modest Mouse. Die schauspielerische Präzision schneidet messerscharf.
Bis zu diesem Punkt sind wir also deutlich eingestellt worden auf die Thematik. Ich wäre schon zu diesem Zeitpunkt zu verkrampft gewesen, um einen Türken, Iraner, Chinesen, Marokkaner, Senegalesen, Afro-Amerikaner anzusprechen. Dann der längste vierte Teil, der Hauptteil: Geburtstagseinladung bei Thomas. Er führt sich seltsam auf, hetzt die Gäste aufeinander. Ich habe uns alle vergiftet, sagt er schließlich. Alle sind außer sich, rufen den Krankenwagen; später war doch alles ein schlechter Scherz. Er ist so einsam, dass er seine Freunde brutal hinters Licht führt und mit ihnen uns. Zur Entspannung spielen sie ein Gesellschaftsspiel, es fallen ein paar wenig witzige Bemerkungen über Afro-Amerikaner, der alltägliche Rassismus. Omar ist das unangenehm. „Würden wir uns so verhalten, wenn ein Schwarzer im Raum wäre?“, fragt er. „Kommt wahrscheinlich drauf an, was für ein Schwarzer das wäre“, meint Desmond. Zack, geht das Licht aus. Ende der Vorstellung.
Jetzt müsste das Publikum erst mal schlucken und realisieren, ach so, das waren alles weiße Figuren, die die schwarze Besetzung da gespielt hat. Allerdings haben die meisten Zuschauer wohl schon aus akustischen Gründen oder hin- und herblickend zwischen Akteuren und Übertiteln diesen Clou verpasst. Der große Applaus gilt vor allem den Schauspielern. Bleibt die Frage, ob das US-Publikum diesen Dreh bemerkt hat, ehe die letzten beiden Punchlines die szenische Annahme enthüllt haben. Uns erschließt sich in diesem letzten Teil kein rassisches Verhaltensklischee, wir sehen eher die Schicht als die Hautfarbe. Wohlsituierte, sehr gut gekleidete Leute, die sich verhalten und Themen verhandeln wie in einem aus den USA importierten Serienformat.
Keine Frage allerdings, dass diese filigran und großartig angelegte Rassismus-Mausefalle, die eigene Wahrnehmungen immer wieder unterläuft, bei einem europäischen Publikum, durch die Umstände eines fremdsprachigen Gastspiels und in einer nicht-us-amerikanischen Kultur anders – und, wie ich meine, weniger effektiv – verfängt als in Columbus, Ohio, oder New York City. Es ist bedauerlich, dass diese Feinheiten im Grunde nur über ein Gespräch mit dem Ensemble und Frau Lee selbst nach der Vorstellung hätten erörtert werden könnten. Das Gespräch fand so nicht statt. Der Abend im Hebbel war nicht gut besucht, sehr zum Betrüben der Künstler, die bisher an volle Häuser gewohnt sind. Diese Inszenierung hätte der Vermittlung dringend bedurft, eine bloße Übersetzung hat das feine Gewebe und die Wucht seiner Gewichtung nicht transportieren können. Zu sehen und zu hören war für das Berliner Publikum vor allem die unglaubliche Leistung des Ensembles. Die Konstruktion des Stücks, die Konterpositionierung mit der ironischen Spielweise und das Warum dieser Dramaturgie blieb selbst dem sprachgewandteren Publikum verborgen.