Im Süden 2
Iraklion. Unhübsche, rauchende Russinnen in Touristencafés. Hübsche, leider bisschen nuttig runtergeputzte Russinnen mit ihren Ehemännern auf dem Basar. Speisekarten auf Russisch. Schon 10 km vor der Stadt „auf der grünen Wiese“ (um eine hier unpassende Metapher zu verwenden) ein Pelzgeschäft neben dem nächsten, die riesigen Schilder sind für Vorüberfahrende gemacht und lassen mit der kyrillischen Aufschrift „Mexa“ keinen Zweifel, wer die Kunden sein sollen. An der Hafenmole um die wegen Renovierung eingezäunte und geschlossene venezianische Festung Koules herum verstreut eine rumänische Familie, die irgendwie an Geld zu kommen versucht: wer nicht arbeiten kann (Kinder, Alte), bettelt mit mehr oder weniger gekonnter Akkordeonmusik, wer erwachsen ist, angelt das Essen zusammen, wozu ein Stock genügen muss. Das heißt: Mann angelt, Frau läuft ihm mit Utensilien hinterher oder findet für den Angelmann Schnurreste im Fischereihafenmülleimer, die sie mit den Zähnen auf eine besser geeignete Länge beißt. Wer die Haupteinkaufsstraße hinunterschlendert, zieht die zuhälterhaften Lockrufe der Kellner auf sich, sich doch zu den sonnengeschwärzten Profitouristen setzen, die auch fürs Essen die Sonnenbrille nur mal eben unters Kinn haben rutschen lassen (immer noch die Bügel auf den Ohren!), ebenfalls hier zu sehen die afrikanischen Straßenhändler, die in jeder mediterranen Touristenmetropole Uhrenkopien oder Schnickschnack in Nullkommanichts zusammenfegen und die Biege machen, wenn der Warnruf erfolgt. Im Zentrum Antifa-Graffitis („Solidarität mit den Flüchtlingen“),vor d er venezianischen Stadtmauer dagegen Graffitis mit Neonazi-Symbolen Kreis und Kreuz („F14 Nationalists“, „Gate 4 Nationalists“) – das macht deutlich, wo insbesondere in diesen Krisentagen auch auf Kreta die Fronten verlaufen.
Der von Venedig bis zum 17. Jahrhundert angelegte umfangreiche Hafen muss als Handelsstützpunkt für den gesamten Ostmittelmeerraum eindrücklich gewesen sein. Schon die wenigen gebliebenen Reste – 10 Meter hohe zum Hafenbecken hin offene Gewölberöhren der Werften – machen Eindruck und werden restauriert. Eine einzige Touristin bleibt stehen, um den einzigen, etwa 250 Wörter langen, provisorisch in Form eines großen und didaktisch wertvoll bebilderten vor der Baustelle aufgestellte Versuch einer Erläuterung des gewaltigen Bauwerks – oder besser: seiner Reste – zu lesen; ihr Begleiter drängt sie mit „Komm, komm, komm!“ zum Weitergehen.
Das berühmte archäologische Museum mit den minoischen „Fresken“ ist ebenfalls Baustelle und bis auf zwei Räume geschlossen, dafür gratis, eine temporäre Ausstellung zu einem im Licht des aktuellen griechischen Bruttosozialprodukts äußerst fairen Eintrittspreis zeigt während dieser Zeit die Highlights in allernotgedrungenster Präsentationstechnik. Einige Vitrinen sind schon wieder leer, wenn die Exponate in die neu gestalteten Ausstellungsräume ins Stockwerk darüber zurück gezogen sind.
Anhand dieser sowieso schon extrem wenigen Fundstücke kann ein Kommentar nur lächerlich ungerecht sein: die minoische Kultur, auch die sehr frühe, kommt ungemein sympathisch daher und ist bar allem, was uns als Wiege Europas so bisher vorgestellt wurde: im Gegensatz zur hellenischen Epoche keine stereotypen Helden- oder Götterdarstellungen, sondern verspielte maritime Muster, Tintenfische oder Kraken, ein phlegmatischer Hund schmücken irgendwie auf Augenhöhe Ton- oder Metallgefäße. Später dann Darstellungen von lächelnden Göttinnen mit dennoch Ahnung von Erhabenheit, von wütenden Stieren und sprungbereiten Raubkatzen, jedenfalls leidenschaftliche Tiere in wunderbaren Ausfertigungen auf Fresken oder Gefäßen, dazu freundlich wirkende, zum Teil barbusige Hoheiten oder Ehrwürden oder beides, überhaupt viele Frauen an der Spitze der Gesellschaft, die ihren manifesten oder transzendenten Obrigkeiten irgendwie auf Augenhöhe begegnet sein muss. In der minoischen Hochzeit während der Einfuhr von Edelmetallen wunderschöner Schmuck, aber nie opulent oder dekadent, immer fein, mit Maß und Verspieltheit. Später dann Auftauchen von Waffen erst mit den Mykenern, dann die deutlich imperiale und irgendwie industriell und stereotyp (immer noch eben klassisch) wirkende attische Epoche, die Römer dann endgültig dekadent, ein frühes Rokkoko im Vergleich zu den da schon 2000 Jahre älteren, unschuldig daherkommenden minoischen Arbeiten. Minos menschlich, Hellas geometrisch, Rom abstoßend.
siehe auch: IM SÜDEN
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