Im Süden 3
Knossos. Der Tipp des Rezeptionisten, wenn schon heute, dann sehr früh nach Knossos zu fahren, hat sich eindeutig bewährt. Im Bus verstehe ich nur das Ich komme als Erster (scheint mir) um 8:30 h an, während die junge Frau am Einlass noch den Pfau füttert.
Knossos ist zuerst ein großes, wieder um auf einem kleinen Hügel angelegtes Ruinenfeld, aus dem allerdings auch höhere Gebäudeteile aufragen und Wege und kleine Brücken für die Besucher angelegt sind. Die Hinweistafeln erzählen viel darüber, wie Arthur Evans ab 1894 (ab 1900 im großen Stil) diese Stätte ausgegraben, wie er dabei die Funde sofort interpretiert und die jeweiligen Räume und Ort benannt hat, pragmatisch nach der Fundsituation (Haus der Felsen) oder wichtigen Funden (Saal des Lilienprinzen), aber leider auch nach angenommenen Funktionen (Schule). Die Schilder versuchen, zu vermitteln, dass man Evans zwar viel schulde, dass es aber andere Interpretationen gebe, die oft auch in den mittlerweile über einhundert Jahren durch andere Funde oder durch Vergleiche mit Funden an anderen Orten oder überhaupt durch anderweitiges Wissen erhärtet wurden. „Teile der Ruinen ließ Evans später zu Gebäuden „rekonstruieren“ (also durch Anfügungen in die Gestalt bringen, die er für die „ursprüngliche“ hielt), was schon damals viel Kritik hervorrief und aus heutiger Sicht für Archäologen undenkbar wäre.“ (dt. Wikipedia, „Arthur Evans“; der englische Eintrag ist wesentlich länger und erläutert auch Evans’ ehrenvollen politische Aktivitäten). Einige alte Fotografien der eigentlichen Ausgrabungen machen klar, wie herbeigebastelt diese Bauten sind, die man hier heute begehen kann. Ungeachtet dessen: Arthur John Evans hat eine ungeheure Entdeckung gemacht.
Wie kam der Mann auf Kreta (damals noch Chandia) und auf diesen Ort? Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erschien eine Theorie zu einer bronzezeitlichen Hochkultur, und als Evans im Verlauf mehrer Jahre unter Sammlerstücken antike Ringe sah und/oder kaufte, deren Herkunft ihm mit Kreta angegeben wurde, wurde er – man kann es sagen – Feuer und Flamme für die Idee, ähnliche archäologische Erfolge landen zu können wie jüngst Schliemann mit Troja.
Erwähnt werden soll auch, dass schon 1886 der Barmer Wilhelm Dörpfeld versuchte, von den türkischen Behörden die Erlaubnis für Ausgrabungen zu erhalten. Die wollten sich aber die Lizenz so teuer bezahlen lassen, dass D. von dem Plan Abstand zu nehmen gezwungen war. Evans profitierte dann von der erzwungenen Autonomisierung Kretas durch eine Allianz von F, RU und GB, von den Türken, die sich die Insel nach […] den Römern (300 Jahre), Byzanz (fast 1000 Jahre, (davon 120 als Emirat muslimischer Piraten (dt. Wikipedia)), Venedig (400 Jahre) fast 250 Jahre unter den Nagel reißen konnten. Inwiefern AJ Evans bei seiner Arbeit von Dörpfelds archäologischer Systematik in Hinsicht der Kartografierung der Funde und Differenzierung der Grabschichten, die er gerade erst in Troja entwickelt hatte, profitieren konnte, ergibt sich aus dem mir vorliegenden Material nicht.
Bezeichnend ist, wie sehr Evans einer raschen Interpretation der Funde anhing. Welche Weltanschauung stand hinter seiner Obsession, die Stätte wäre religiosoiden Charakters und ein Heiligtum irgendeiner Art. Die sehr umfangreichen, direkt im Palast gelegenen Magazine/Lagerhäuser stellen die Pallastidee in Frage. Aber eine insgesamt und rein kultische Deutung lässt sich wohl heute nicht mehr so belegen. Nach einem deutlich mehr materialistisch und säkular orientierten Jahrhundert und in Zeiten, in denen die Politik noch den letzten Rest von Transzendenz aus dem Portemonnaie kratzt, würde man wohl viel stärker auf ökonomische Interpretationen setzen. Die jahrelange Beschäftigung mit ein und demselben Gegenstand und einem Grabungsfeld von vielleicht einem Viertel Quadratkilometer muss ihn vielleicht auch ein wenig isoliert haben von anderen Sichtweisen und Einflüssen. So dachte er sich die minoische Kultur als quasi aus sich selbst heraus entstanden, während man heute eher davon ausgeht, dass matriarchalisch strukturierte Kulturen aus Kleinasien die minoische gegründet haben. Ich stelle mir vor, wie Evans im Verlauf seiner Ausgrabungen immer weiter in seine eigene Vorstellung dessen eintaucht, was er hier ausgräbt und was hier mutmaßlich mal gestanden hat. In einem frühen Traum begegnet ihm eine Priesterin und der angenommene König von Knossos und führt ihn als Ehrengast wie Staatsbesuch durch die prunkvollen und weitläufigen Hallen über Treppen und durch Säulengänge. Jahre später, in einem anderen, ist er selbst König von Knossos geworden, und die Lustrationsbecken, deren Zweck er (und niemand bis heute) entschlüsseln konnte, die Stierspiele und Menschenopfer, all das dient Kultzwecken zu Ehren King Arthur Evans’, Hochkönig des Vereinigen Königreiches von Kreta.
Im Verhältnis zu ihrem Alter liegt der Ausgrabungszeitpunkt der Ruinen noch nicht lange zurück. Als König George V. Evans 1911 (er war 60) zum Ritter schlägt, erreicht Amundsen den Südpol, Clara Zetkin begeht zum ersten Mal den Internationalen Frauentag, Franz Marc malt ein blaues Pferd, die Mona Lisa wird gestohlen, Frau Caroline Catharina Honecker ist mit ihrem vierten Kind noch nichtmal schwanger, die Titanic ist in Irland noch im Bau, meine Großmutter – ebenfalls Barmerin – ist aber schon fünf.
Die unsichtbaren Pfauen machen Geräusche, die ich lange für Handygeräusche halte und ihnen erst später zuordnen kann, als mein Gerät keine eingegangenen Nachrichten zeigt.
Um halb zehn verstellt mir zum ersten Mal eine große polnische Reisegruppe den Zugang zum von Evans so genannten Thronsaal. Um zehn muss ich gehen, es wird zu voll. Im Bus fallen mir die grünen Aufkleber auf: „Notausstieg – Im Notfall Scheibe einschlagen“. Der etwas abgerockte Bus kommt aus Deutschland, die blaue Farbe lässt mich Hamburg vermuten.
siehe auch: IM SÜDEN
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