Die Wahl der Wahl
Die vielleicht einflussreichste und erhellendste Veranstaltung im Umfeld der Bundestagswahl 2013 war gestern die kleine Performance POLITISCHES SOLO vom Performancelabel müller***** und vor allem der kurze Vortrag plus Diskussion in der Vierten Welt. Wie bin ich politisch, fragte sich und mit sich auch uns die Performerin Elisa Müller im ersten Teil. Anschließend drehte sich der Vortrag von Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung um (Nicht-) Wählen als politische Strategie.
Das Gespräch formulierte mehrere interessante Aspekte, z. B.:
– eben jene Teile der Bevölkerung nehmen im größten Umfang nicht an Wahlen teil, die die niedrigsten Einkommen und sowieso am wenigsten Teilhabe an der Gesellschaft haben;
– die Wahlbeteiligung sinkt seit der Kohl-Ära in einem grafisch unübersehbaren Bogen gegen nicht mehr wirklich repräsentative 50 %.
Der Verweis auf das Wahlrecht als demokratische Säule, die einkommens- und sozialstatusunabhängig funktioniert, überzeugt viele nicht als Mittel, sich effektiv in politische Prozesse einzubringen. Wenn sie es mal versucht haben, lassen sie es bald wieder sein. Die Erwartungshaltung an den Wahlvorgang ist in einem existenziell bedrohten Prekariat zu ausschließlich, oder umgekehrt: die Reduktion der politischen Teilhabe auf den Wahlvorgang lässt den Bedürftigen unbefriedigt. Viel eher heben Politiker ihn als umso wichtiger hervor, um dann darauf verweisen zu können, dass man ja teilnehmen könne, und wer das durch Nichtwählen verweigere, sei halt selber schuld. Herr Kahrs stellt das als nicht die ganze Wahrheit da, sondern legt nahe, dass Wählen auch verwendet wird als Vertröstung für sonstige politische Ohnmacht.
Wählen ist wichtig. Wichtiger sind aber alle anderen Möglichkeiten des politischen Handels noch vor oder neben dem bestehenden Parteipolitapparat, die eine Einflussnahme unmittelbarer sichtbar und ertragreich machen können, so ein Beitrag in der Diskussion. Auf kommunaler Ebene, wo noch der unmittelbarste Einfluss ausgeübt und dessen Ertrag aufgrund der Lokalität der Interessen und Themen genauer erlebt werden kann, ist die Wahlbeteiligung nachweislich insgesamt am geringsten, zeigen Kahrs Forschungen. Aber auch das kommt wiederum jenen zugute, die von dieser geringen Wahlbeteiligung profitieren, lässt sich schließen. Damit die wenigen Entscheider nicht von den vielen mit anderen Interessen über die demokratisch zur Verfügung stehenden Mittel weggewählt werden, müssen sie von der Politik enttäuscht bleiben und sich raushalten, so Kahrs.
Die Wahlbeteiligung zu erhöhen, so der erste einfache Schritt zur Veränderung, macht die Repräsentanten erstmal repräsentativer und die Prozente für die wenig repräsentativen Parteien gehörig kleiner. In den Staub, ihr Unterfünfprozentler. Geht wählen, Bürger!
Im nächsten Schritt kann eine stärkere politische Selbstermächtigung der Bürger – aller Bürger – die Parteien oder die Parteienlandschaft enorm verändern und diese wiederum das System durchlässiger machen, damit mehr Menschen ihre Interessen (direkter) vertreten sehen. Der politische Apparat steht zur Verfügung und muss in stärkerem Maß angeeignet werden. Nur so sind auch die außerparlamentarischen politischen Kräfte, die die Demokratie schwächen, mit den politischen Instrumenten wieder stärker zu regulieren, die sie in den vergangenen Jahrzehnten dereguliert und gestärkt haben.
Die Bevölkerung ist nicht politisch verdrossen oder träge oder was auch immer – nur ist sie enttäuscht von einer Politik, die sie nicht mehr stark genug vertritt, oder bestimmte Teile der Bevölkerung aus dem politischen Prozess ausklammert, auch indem sie deren Interesse an einer Repräsentation und Partizipation lähmt. Perfide: in den Augen beträchtlicher Bevölkerungsteile verbreitet der Politikapparat selbst politischen Defätismus. Das alles findet sich ausführlich und überparteilich formuliert in einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung wieder: „Politikverdrossenheit„.
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