Logbuch 2.3: DIE SCHLAFWANDLER
DIE SCHLAFWANDLER, S. 342.
Broch beeindruckt weiter: für Esch löst sich die Sehnsucht nach eindeutig zuzuordnenden Gut-Böse-Strukturen nicht (mehr) ein, ebensowenig die Täter-Opfer-Dichotomie. Für ihn ist die Verhaftung des Sozialdemokraten und Gewerkschaftsaktivisten Martin Geyring bei einem Streik in Mannheim ein Opfer, und „wer sich opfert, ist anständig“ – was freilich nicht bedeutet, dass nicht „diese Sozialisten Schweine waren“.
Bei seinem Besuch im Gefängnis ist Martin aber guter Dinge und munter und ironisch und lacht ihn aus wegen seines heiligen Ernstes, mit dem Esch ihm erzählt, dass man den Unternehmer Bertrand, eigentlich töten sollte.
„Und da Esch solcherart mit großem Haß der Welt gedachte und der Schweine, die man abzustechen hätte, wie es Schweinen gebührt, haßte er immer deutlichen den Präsidenten Bertrand, haßte ihn ob seiner Laster und seiner Verbrechen. Er versuchte, sich ihn vorzustellen, wie er in seiner Üppigkeit, eine dicke Zigarre in der Hand, auf Polstermöbeln an der Tafel des Schlosses sitzt (…).“
Als er dann zu Bertrand geht, ist dessen Anwesen bescheidener als erwartet, der Mann normaler und freundlicher, und Esch selbst verwirrt und überhaupt nicht bereit, seinen absoluten Worten auch absolute Taten folgen zu lassen. Bertrand sitzt einfach freundlich und zeigt ihm den Garten und redet mit ihm und führt ihn hinaus und lässt ihn mit dem Wagen zum Bahnhof fahren, und diese erste Autofahrt Eschs ist sehr schön.
Da soll einer nicht verzweifeln, wenn die Kategorien derart durcheinander geraten, bzw. sich herausstellt, dass es sie nicht mehr gibt.
„Irgendwo kam es eben nicht mehr auf die Menschen an, die waren alle gleich und es verschlug nichts, wenn einer im andern verfloß und der einen auf dem Platz des andern saß, – nein, nicht mehr nach guten und bösen Menschen, sondern nach irgendwelchen guten und bösen Kräften war die Welt zu ordnen.“
Das sähe man heute sicher wieder anders, wo es darum geht, das fragwürdige System nicht zu stürzen, aber die individuellen Verbrecher genau zu identifizieren, leitet sich doch sonst daraus genau dies ab: „losgelöst vom Täter besteht das Unrecht und das Unrecht allein ist es, das gesühnt werden muß.“ – also eine Ideologie, die nach Gewalt, nach Opfer verlangt.
Aber mit der Moral ist es eben schwierig: einerseits regt Esch sich darüber auf, dass der Direktor des Schaustellerunternehmens darüber jammert, wie er sich schindet, indem er seine Gewinne in einem Heftchen ermittelt, während draußen der Frauenringkampf ihm diese Gewinne beschert, er eigentlich also diese Frauen schindet; andererseits bagatellisiert Esch den eventuell bevorstehenden Mädchenhandel, wenn es darum geht, damit seinen Traum der Auswanderung nach Amerika zu ermöglichen.
Zur Schilderung des länger angekündigten Kulminationspunktes von Eschs Besuch bei Bertrand greift Broch zum ersten Mal zu einem formalen Stilmittel: die betreffenden Absätze über sind in einer altertümelnden, biblisch oder traumhaft anmutenden Sprache verklärt, und jedem Absatz steht ein kursiver Absatz voran wie ein Motto:
„Groß ist die Angst dessen, der erwacht. Er kehrt mit geringerer Berechtigung zurück und er fürchtet die Stärke seines Traumes, der vielleicht nicht zur Tat, wohl aber zu neuem Wissen geworden ist. Ein Ausgestoßener des Traumes, wandelt er im Träume.“
Und ganz richtig wird hier dann auch zum ersten Mal das titelgebende Motiv des Schlafwandlers benannt: „die Sehnsucht des Mannes, in dessen Schlafwandeln die Welt vergeht“.
Schreibe einen Kommentar