Übersetzen für eine Uraufführung
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Die Dramaturgin Katharina Rösch konnte die neue Leitung am Theater Essen überzeugen, die Londoner Theaterautorin Dawn King mit einem Stückauftrag auszustatten. Das Team für die Produktion ist dasselbe, das sich schon 2022 am Düsseldorfer Schauspielhaus mit Dawns Stück Das Tribunal bewährt hat. Adrian Figueroa führt Regie, Irina Schicketanz entwirft Kostüme für die Besetzung des Stadt-Ensembles und die Bühne im Maschinenhaus, Ketan Bhatti komponiert die Zukunfts- und Gegenwartsmusik, und die Übersetzung besorge ich.
Damit stehe ich in einer eher selten schönen Position. Abgesehen davon, dass Literaturübersetzende in der Bedeutung ihrer Tätigkeit in allen Bereichen und in aller Regel zu wenig geschätzt und vergütet werden, sind Theaterübersetzende meiner Erfahrung nach fast nie an den eigentlichen Produktionsabläufen beteiligt. Ungeachtet ihrer Verfügbarkeit und ihrer Expertise mit dem Material werden sie nicht als Teil dieses Teams betrachtet. Anders in diesem Fall.
Doch der Reihe nach: Die Autorin Dawn King hat im Sommer letzten Jahres den Auftrag erhalten, ein Stück für das Theater Essen und sein Stadt-Ensemble Plus zu schreiben. Auch bei Das Tribunal in Düsseldorf war 2022 das dortige Stadt:Kollektiv mit einer großen Besetzung aus mehr oder weniger Laienjugendlichen ins Stück eingeschrieben. Das hat wunderbar funktioniert. Dawn ist es in Das Tribunal gelungen, viele Rollen mit sehr knappen Dialogen dennoch individuell zu gestalten. Mit Alles wie es sein soll hat sie nun ein großes Stück mit zwei Zeitebenen entworfen, das eine ältere weibliche Hauptfigur in der Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod sowie zwei Familien aus Erwachsenen und Jugendlichen zeigt, die mit den Fragen ihrer Zeit, mit Zukunftsangst, Generationskonflikten, Konfrontation mit Verlust, Elternwerden ringen.
Die erste Fassung wurde im Herbst 2024 von Autorin, Regie und Dramaturgie mehrfach diskutiert, ehe ich eine Version erhielt, die sich alle als Probenfassung vorstellen konnten. Diese habe ich zunächst übersetzt. Weil ich sie etwas später erhielt als geplant, blieb weniger Zeit, alle Fragen zu klären, so dass ich mit Katharina wenige Tage vor Probenbeginn die wichtigsten Unklarheiten entschied. Dazu gehörte der Titel A Brilliant Design, der im Deutschen so nicht funktionierte, weil die Worte Design und brillant im Deutschen zwar existieren, jedoch etwas andere Bedeutungen haben, als im englischen Titel anklingen und gemeint sind. Schließlich einigten wir uns auf meinen Vorschlag Alles wie es sein soll, der sich aus einer Übersetzungsoption der betreffenden Textstelle herleitet.
Die Konzeptionsprobe im Dezember, bei der wir alle den Text zum ersten Mal vom Ensemble gelesen hörten (auch Dawn hatte ihren englischen Text noch nie gehört), bot Gelegenheit, einige kleine Änderungen sofort vorzunehmen, die sich beim Hören als weniger überzeugend erwiesen. Ich hatte mir – das wäre ohne Konzeptionsprobe nicht möglich gewesen – Stellen markiert, an denen ich Alternativen ausprobieren wollte. Ich lieferte also gleich am nächsten Tag, ehe die Bühnenproben begannen und bevor sich etwas verfestigen konnte, schon eine leicht überarbeitete Fassung. Im Laufe des Probenprozesses kamen sehr viele Fragen vom Ensemble und der Regie/Dramaturgie auf. Das betraf zum Beispiel einige Namen. Manche – wie „Katy“ – waren einfach zu handhaben („Kati“), andere klangen im Deutschen merkwürdig und sollten ersetzt werden. Zum Beispiel wurde „Amber“ im Deutschen als ungeeignet empfunden. Mit der Autorin dachte ich über Alternativen nach. Sie fragte nach Alternativen aus dem Bedeutungsfeld Wasser oder Mond. Dazu griff ich auf Latein zurück (zum Beispiel „Luna“). Da aber die Figur in einer Zukunft lebt, die zwei Generationen entfernt liegt, schlug ich auch Namen vor, die es meines Wissens nicht gibt, die aber als weibliche Vornamen klar zu identifizieren sind. Aus „Amber“ wurde schließlich „Unda“ (lat. Welle). Gleichzeitig sollten nicht alle Frauennamen auf A enden. Ich schickte eine Liste von 16 Namen von „Merle“ bis „Cleo“. Auch ein Jungenname („Nate“) war schwierig im Deutschen, wir einigten uns nach vielen Vorschlägen auf „Ben“. Mehrere Rollen wurden mit anderem Geschlecht besetzt als vorgesehen, was nicht immer Einfluss auf die Namensgebung hatte („Nico“), aber manchmal eben doch, so dass aus „Petra“ „Per“ wurde. Für alle diese Absprachen waren jeweils mehrere Sitzungen mit der Dramaturgie und der Autorin notwendig – und selbstverständlich enorm viele E-Mails.
Für mich Übersetzer und die Autorin kommt noch eine weitere Herausforderung hinzu. Viele Entscheidungen im Probenprozess übernimmt die Autorin in ihr Stück, das ja erst noch entsteht, und viele gute Vorschläge auch der Darsteller:innen, der Regie und der Dramaturgie übernehme ich in die Übersetzung. Über diese Inszenierung in Essen hinaus wird das Stück aber ja hoffentlich noch weitere erleben. Für diese möchte die Autorin eine Textfassung bereitstellen, die sich von der in der Uraufführung verwendeten unterscheidet und die dortigen, nachvollziehbaren Kompromisse vermeidet. (Die Übersetzung wird, wie schon einige von Dawns früheren Stücken, vom Kiepenheuer Bühnenvertrieb vertreten.) Ab einem gewissen Zeitpunkt arbeiten die Autorin und ich also mit zwei Fassungen, einer für die Produktion, einer für weitere Inszenierungen. Dawn muss prüfen, welche Vorschläge sie für die zweite Fassung übernimmt. Ebenso muss ich prüfen, welche deutschsprachigen Vorschläge aus den Proben ich für die Verlagsfassung übernehme. Dieser gesamte Ablauf erfordert eine komplexe Kommunikation in viele Richtungen und erzeugt viele Textdateien, über die alle den Überblick behalten müssen.
Das Übersetzen für eine Uraufführung ist vor allem deswegen eine Chance, weil der Text, ehe er einer Öffentlichkeit präsentiert wird, von Seiten der Autorin, des Produktionsteams sowie der Schauspieler:innen durch viele Hirne, Münder und Ohren geht. Wenn es der Dramaturgie, wie hier Katharina Rösch, gelingt, alle Fäden in der Hand zu behalten, was überaus anstrengend und anspruchsvoll ist, dann kommt am Ende eine gut erprobte (sic!) und mehrfach auf verschiedene Aspekte hin geprüfte Textfassung heraus (großer Dank an Katharina für diese Leistung!). Bei allem Aufwand ist das eine ideale Situation, um den bestmöglichen Theatertext zu schaffen. Dazu bedarf es eines Teams, das bereit ist, sich darauf einzulassen, immer wieder innezuhalten und Unklarheiten eine Weile auszuhalten. Für diese besondere Chance und für die Anerkennung meiner Arbeit im Team möchte ich meinerseits allen Beteiligten herzlich danken.
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Schauspiel Essen
Uraufführung
Alles wie es sein soll
von Dawn King (Auftragswerk)
Deutsch von Henning Bochert
mit dem Stadt-Ensemble Plus des Schauspiel Essen
Besprechungen
09.02.2025 Die Deutsche Bühne (trotz Offenem Brief keine Übersetzernennung)
10.02.2025 Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ)
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