Dawn Kings THE TRIALS übersetzen
Die Londoner Autorin Dawn King stellte in der zweiten Jahreshälfte 2020 im Auftrag des Düsseldorfer Schauspielhauses eine Fassung ihres Stücks THE TRIALS fertig. Im engen Austausch mit ihr und der Dramaturgie des Hauses übersetzte ich eine Probenfassung für die Premiere im Januar 2022. Sie wiederum nahm in dieser Phase kleinere Änderungen an einzelnen Sätzen vor.
Das Stück ist ungefähr im Jahr 2050 nach einer eingetretenen Klimakatastrophe angesiedelt und zeigt eine Jury aus zwölf Kindern und Jugendlichen (12-17 Jahre), die in massenhaften Schnellverfahren Angeklagte ihrer Elterngeneration nach deren Verantwortung für den ruinösen Umgang mit den Ressourcen des Planeten beurteilen müssen; die Schuldigen werden hingerichtet. Die Jury diskutiert die Argumente der Angeklagten, die in drei Monologen ihre Positionen darlegen, und streift dabei auch die Frage, ob diese Verfahren an sich ethisch zu verantworten sind.
Erste Fassung
Ich möchte hier auf einen interessanten Diskurs eingehen, der die Übersetzungsarbeit deutlich geprägt hat. Die Produktion der Uraufführung rang (mit der dank dem Coronavirus abwesenden Autorin) mit einigen Bezügen im Text auf das nationalsozialistische Regime in Deutschland. Zwei in dieser Hinsicht relevante Stellen im Stück hat die Autorin im Laufe ihrer Arbeit am Text immer weiter entwickelt. Zunächst begegnet uns am Ende des Plädoyers der Angeklagten Drei ein Stichwort, wenn die Frau sich mit ihrer Tötung einverstanden erklärt. Das klingt in der ersten Fassung so:
DEFENDANT THREE I volunteer to be euthanized for the sake of my daughter and her generation.
Im Deutschen zumindest ruft der Begriff to euthanize unweigerlich – über den Euthanasie-Erlass Hitlers vom Oktober 1939 – den Bezug zur nationalsozialistischen Diktatur auf. Ein Verb zu Euthanasie gibt es im Deutschen nicht, Wörterbücher übersetzen to euthanize mit einschläfern. Daher gäbe es in der Übersetzung zunächst auch die Möglichkeit, eine ähnliche gewollte Verharmlosung des Tötungsvorgangs durch einschläfern, beseitigen, liquidieren zu erreichen, die jeweils unterschiedliche Gewichtungen haben. Wie sehr der NS-Bezug in der Übersetzung erkenntlich bleiben soll, ist zunächst unklar. Ich entscheide mich jedoch für die deutliche Markierung und verwende das Substantiv, was zu einer syntaktisch nicht ganz befriedigenden Lösung führt.
ANGEKLAGTE DREI Ich melde mich freiwillig zur Euthanasie, für das Wohl meiner Tochter und ihre Generation.
Eine zweite Stelle wiederum stellt explizit die ethische und juristische Frage nach der Rechtmäßigkeit der Verfahren und der Massen-„Tribunale“.
Im Englischen:
MOHAMMAD After the Second World War, they held trials… of all the high[-]level Nazis that were still alive, to decide how guilty they were of committing war crimes. And the guilty ones were executed, or went to prison. Right?
TOMAZ I don’t need a history lesson. I’m trying to digest.
MOHAMMAD But afterwards years and years later… some people said the trials weren’t really fair. Because the laws they were using to find people guilty didn’t exist when they committed the crimes. A person can’t commit a crime if the law they break doesn’t exist when they break it. How can that be fair? How can that be justice? And that’s what we’re doing now. […] legally, this is… questionable.
KAKO Actually, other people, most people, said the Nuremberg trials were fair. Considering the crimes and the circumstances. You should check your facts.
GABI And a crime against the planet is still a crime. Even if it happened in the past.
MOHAMMAD That doesn’t make sense!
KAKO The law’s changed to protect the planet.
GABI Don’t you think that’s right?
Und auf Deutsch:
MOHAMMAD Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Prozesse … gegen die ganzen hochrangigen Nazis, die überlebt hatten, um zu ermitteln, ob sie Kriegsverbrechen begangen hatten. Die Schuldigen wurden hingerichtet oder kamen ins Gefängnis. Oder?
TOMAZ Bitte keine Geschichtsstunde. Ich versuche, zu verdauen.
MOHAMMAD Aber viele Jahre später … meinten manche, die Prozesse wären eigentlich nicht gerecht gewesen. Weil es die Gesetze, nach denen die Leute verurteilt wurden, gar nicht gegeben hatte, als sie die Verbrechen begingen. Man kann kein Verbrechen begehen, wenn das Gesetz, das man bricht, noch gar nicht existiert hat, als man es gebrochen hat. Wie kann das gerecht sein? Wie kann das Gerechtigkeit sein? Und genau das machen wir hier. […] rechtlich gesehen ist das … fragwürdig.
KAKO Aber die anderen, sogar die meisten, fanden die Nürnberger Prozesse fair. Angesichts der Verbrechen und der Umstände. Lieber nochmal Fakten prüfen.
GABI Und ein Verbrechen gegen den Planeten bleibt ein Verbrechen. Auch wenn es in der Vergangenheit passiert ist.
MOHAMMAD Das ist doch unlogisch!
KAKO Die Gesetzeslage hat sich geändert, zum Schutz des Planeten.
GABI Findest du das etwa nicht richtig?
Hier wird diskutiert, wie sich die von King imaginierte, unter dem Druck der Klimakatastrophe autoritärere Gesellschaft in Hinblick auf die Rechtfertigung ihrer Maßnahmen zur Nazidiktatur verhält.
Nächste Fassung
In der nächsten Fassung steht an dieser Stelle ein Dialog, der die Beschäftigung mit dem Präzedenzfall vertieft. Mohammad diskutiert schon genauer die juristische Rechtmäßigkeit dieser Gerichtsprozesse:
KAKO After the second world war, they held trials of all the high[-]level Nazis who were still alive, to decide how guilty they were of committing war crimes-
TOMAZ I don’t need a history lesson. I’m trying to digest.
KAKO -and the guilty ones were executed or went to prison. Right? But some of them argued they shouldn’t be tried like that, because the laws against war crimes didn’t exist at the time. It has a name, this argument. I forgot what it is. It’s like… trying to get off because of a legal technicality. My dads tried to use it. It didn’t work.
NOAH You’re making the same argument as the Nazi’s, Mohammad?
MOHAMMAD No…
TOMAZ That’s fucked up.
MOHAMMAD I’m trying to understand what we’re doing! Because it doesn’t feel right to me.
NOAH Oh, boo hoo.
GABI A crime against the planet is still a crime. Even if it happened in the past.
KAKO The law’s changed to protect the planet.
GABI Don’t you think that’s right?
Und auf Deutsch:
KAKO Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Prozesse gegen die ganzen hochrangigen Nazis, die überlebt hatten, um zu ermitteln, ob sie Kriegsverbrechen begangen hatten.
TOMAZ Bitte keine Geschichtsstunde. Ich versuche, zu verdauen.
KAKO – und die Schuldigen wurden hingerichtet oder kamen ins Gefängnis. Richtig? Aber manche von ihnen meinten, die Prozesse wären nicht gerecht, weil es die Gesetze, nach denen sie verurteilt wurden, gar nicht gegeben hatte, als sie die Verbrechen begingen. Es gibt ein Wort für dieses Argument. Es fällt mir nicht ein. So etwas wie… sich rausreden wegen einer juristischen Feinheit. Meine Papas haben auch so argumentiert. Hat nicht funktioniert.
NOAH Du argumentierst so wie die Nazis, Mohammad?
MOHAMMAD Nein…
TOMAZ Das ist doch Kacke.
MOHAMMAD Ich versuche zu verstehen, was wir hier tun. Weil es sich für mich nicht richtig anfühlt.
NOAH Och, so’n Pech aber auch.
GABI Ein Verbrechen gegen den Planeten bleibt ein Verbrechen. Auch wenn es in der Vergangenheit passiert ist.
KAKO Die Gesetzeslage hat sich geändert, zum Schutz des Planeten.
GABI Findest du das etwa nicht richtig?
Premierenfassung
Eine weitere Fassung, die der Düsseldorfer Premiere, verzichtet in der Übersetzung schließlich auf den Euthanasiebegriff. Erst spät im Probenprozess wird das Team auf die Tragweite des Bedeutungszusammenhangs aufmerksam und reagiert besorgt. Nach Rücksprache mit dem Übersetzer wird beschlossen, „dieses Fass nicht aufzumachen“. Dabei schwingt die Annahme mit, die Autorin unterschätze den sprachhistorischen Hintergrund des Diskurses für das deutsche Publikum. (Heute nehme ich an, dass die Annahme, die Autorin hätte beim Diskurstransfer aus dem britischen Zusammenhang die besondere Relevanz des deutschen Wortes für ein deutsches Publikum nicht in Rechnung gestellt, falsch war.) Außerdem war im laufenden Probenbetrieb eine Auseinandersetzung mit der Autorin über diese weitreichenden Diskursfragen nicht mehr realistisch.
DEFENDANT THREE I volunteer to be euthanized for the sake of my daughter and her generation.
ANGEKLAGTE DREI Für das Wohl meiner Tochter und ihre Generation lasse ich mich freiwillig hinrichten.
Zwar ist damit wieder ein Verb gefunden, so dass die Übersetzung auf der syntaktischen Ebene besser gelingt; nur leider geht mit dem euphemistischen Verb der Bedeutungszusammenhang verloren.
Neue Fassung
Anlässlich der englischen Erstaufführung im Londoner Donmar Playhouse am 12. August 2022 schreibt die Autorin das Stück eineinhalb Jahre später massiv um. In dieser Fassung wird nun deutlich, dass die Düsseldorfer Frage nach dem von Anfang an angelegten Nazivergleich sie weiter beschäftigt hat und dass sie versucht, eine dramatische Lösung dafür zu finden. Inzwischen habe ich beschlossen, das Verb euthanasieren für diese Zukunftsgesellschaft zu erfinden. To euthanize wird betont –
DEFENDANT THREE I volunteer to be euthanized.
For the sake of my daughter and her generation.
ANGEKLAGTE DREI Ich bin lasse mich freiwillig euthanasieren.
Für das Wohl meiner Tochter und ihrer Generation.
und durch mehrfache Erwähnung in anderen Teilen des Stücks stärker etabliert.
KAKO They
executedeuthanised my dads!
In der Übersetzung kehrt damit die Frage nach Verb und Substantiv zurück.
KAKO
Sie haben meine PapashingerichtetMeine Papas haben sie euthanasiert!
In einer Gemengelage aus praktischen Probenbedingungen und vermutlich auch aus Berührungsängsten mit dem großen Thema, jedoch auch, weil der historische Bezug von Autorinnenseite noch nicht ausreichend entwickelt war, wurde die Debatte über diesen Begriff und den dahinterliegenden Diskurs vermieden. Diese Auslassung der begrifflichen Hinweise hat die Absichten des Stücks entschärft und verfälscht. In der neuen Fassung nun wandelt die Autorin diese Debatte geschickt in einen Streit zwischen den Figuren um. Dem muss in der Anpassung der Übersetzung Rechnung getragen werden.
Mohammad stellt die ethische Rechtmäßigkeit des Tribunals in Frage und sich selbst damit in Opposition zur Staatsräson:
MOHAMMAD I’ve been thinking about Defendant One. About what he said about not being a criminal. And…it’s true. These defendants… weren’t breaking any laws. Back then. So how can we execute them now?
KAKO You know… that’s what the Nazis said in the Nuremberg Trials?
[…]
NOAH But but what? What’s your fucking point?
MOHAMMAD Like Kako said, the Nuremberg trials were high level Nazis! Look, the first wave of trials made sense to me. But these are ordinary people. There’s a difference between the people who’re in charge and ordinary people.
[…]
GABI What’s wrong with you all? She’s playing a really smart game. Volunteering to
diebe euthanized like that… it’s… a trick. She makes herself seem all noble so you feel sorry for her.REN I don’t think it’s a trick.
XANDER She seemed genuine to me.
MOHAMMAD It’s not euthanasia. Call it what it is. Execution. Murder!
Und auf Deutsch:
MOHAMMAD Ich habe über Angeklagten Eins nachgedacht. Wie er gesagt hat, dass er kein Verbrecher wäre. Und … es stimmt. Diese Angeklagten … haben gegen keine Gesetze verstoßen. Damals. Wie können wir sie also heute hinrichten?
KAKO Du weißt schon … genau das haben die Nazis bei den Nürnberger Prozessen gesagt?
[…]
NOAH Aber aber was? Was willst du denn sagen, verdammt?
MOHAMMAD Wie Kako gesagt hat, die Nürnberger Prozesse waren hochrangige Nazis! Die erste Welle hab ich verstanden. Aber das hier sind normale Leute. Zwischen Leuten an der Macht und normalen Leuten gibt es einen Unterschied.
[…]
GABI Was habt ihr denn alle? Sie spielt ein ziemlich cleveres Spielchen. Sich einfach freiwillig euthanasieren lassen … das … ist ein Trick. Sie stellt sich so nobel dar, damit ihr Mitleid mit ihr habt.
REN Ich glaube nicht, dass das ein Trick ist.
XANDER Sie wirkte ehrlich auf mich.
MOHAMMAD Das ist keine Euthanasie. Nennt es beim Namen. Hinrichtung. Mord!
Eine weitere Stelle in der englischen Fassung:
MOHAMMAD How do we know that these trials… that… getting rid of these people will help? What if they have the ideas or skills we need, or, or… what if the government is just throwing these people overboard, so everyone else on the sinking ship will feel better?!
AMELIA Do you really think/
NOAH That’s some quality conspiracy theory shit you’re rambling now.
und in der deutschen:
MOHAMMAD Woher wissen wir denn, dass diese Tribunale … dass … es was nützt, diese Leute loszuwerden? Und wenn sie Ideen und Fähigkeiten haben, die wir brauchen, oder … oder … wenn die Regierung diese Leute nur über Bord schmeißt, damit alle anderen sich auf dem sinkenden Schiff besser fühlen?!
AMELIA Glaubst du ehrlich/
NOAH Das ist waschechte Verschwörungsscheiße, was du da quatschst.
Darüber hinaus verleiht die Autorin dem Streit die größtmögliche dramatische Betonung, indem sie die Situation mit neuem Text eskaliert, bis die beiden sich prügeln:
Noah lunges at Mohammad and suddenly everyone is yelling at once. Ren and Xander grab Noah and pull him back.
MOHAMMAD That’s right, show me how you have a reasoned debate you-
NOAH Patronising cunt.
MOHAMMAD -crazy fucking…
XANDER Stop!
REN Calm down!
GABI There’s no need for everyone to get so emotional.
MOHAMMAD I thought I was allowed to have an opinion? But he keeps trying to silence me! Now he’s using violence. If anyone’s a Nazi, it’s him!
NOAH Fuck you!
Noah lunges again.
AMELIA They’re fighting! I can’t, I can’t… I can’t…
MAREK Breathe, Amelia…
MOHAMMAD Bully! Nazi!
NOAH Cunt!
Und auf Deutsch:
Noah stürzt sich auf Mohammad, und plötzlich schreien alle durcheinander. Ren und Xander packen Noah und halten ihn zurück.
MOHAMMAD Genau, zeig doch mal, wie eine vernünftige Debatte bei dir aussieht, du –
NOAH Überheblicher Wichser.
MOHAMMAD – gestörter Scheiß-
XANDER Schluss jetzt!
REN Beruhigt euch!
GABI Hat keinen Sinn, dass wir uns alle so aufregen.
MOHAMMAD Ich dachte, eine eigene Meinung wäre erlaubt? Aber er versucht, mich zum Schweigen zu bringen! Sogar mit Gewalt. Wenn hier jemand ein Nazi ist, dann er!
NOAH Fick dich!
Noah stürzt sich wieder auf ihn.
AMELIA Sie kämpfen! Ich kann das, kann das nicht …
MAREK Durchatmen, Amelia …
MOHAMMAD Schläger! Nazi!
NOAH Fotze!
Der Verweis auf Hitlers Euthanasieprogramm hat sich damit von einem Thema, mit dem Autorin und Produktion nicht gleich zu einer befriedigenden Lösung gekommen sind, zu einem zentralen Aspekt des Dramas gewandelt, der von Anfang an angelegt, obschon nicht fertig entwickelt war. Wieso ist er so zentral? Der Diktator hatte bei seiner Anweisung an seinen Leibarzt Karl Brandt und NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler den Kriegsbeginn bereits im Auge: (Pflegebedürftige) Behinderte sollten keine Krankenbetten belegen, die von im bereits geplanten Krieg Verwundeten benötigt würden. Aus strategischer Überlegung ließ Hitler also Hunderttausende Menschen ermorden, schuf hernach die entsprechende politische Linie und das dazugehörige zynische Vokabular, indem er den systematischen Mord als Gnadentod bezeichnete (auch das eine mögliche Übersetzung von Euthanasie).
Das Stück zieht diesen Vergleich in dieser Donmar-Fassung nun – vielleicht auch in Reaktion auf eine Theaterkritik nach der Düsseldorfer Aufführung – weitaus stärker. Indem der Text nun betont, dass in dieser fiktiven Zukunftsgesellschaft wesentliche (Menschen-) Rechte der Demokratie mit der Begründung des Arterhalts aufgegeben und ein beträchtlicher Teil der Population geopfert wird, geht die Autorin mit solchen Maßnahmen deutlicher ins Gericht und macht dadurch ihre eigene Sichtweise auf autoritäre Entwicklungen klar.
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