Theseus auf Kreta
Sie hat mir gesagt, ich würde ihn schlafend finden, den Halbbruder, das Monster. Auch so entledigt man sich ungeliebten Blutes. Nicht wieder vierzehn Kinder soll Minos‘ Stiefsohn verschlingen, der Stiersohn. Derselbe Schlaf raubt zugleich noch dem erprobtesten Helden den Kampf, die notwendige Entschuldigung für die Heldentat, und macht jene erst möglich. Denn die draußen wissen nicht, dass vor der Kraft des Monsters alle schwach sind und werden es nie wissen. So ist die Einsamkeit des Täters Last und Bedingung seines Berufs. Doch der Schlaf lähmt ihm aber die Sinne und gestattet das härtere Niederschmettern mit der Waffe. So tötet, womit Monster einmal Menschen töteten, nun Monster.
Wer weiß, ob sie an mir Interesse hat oder am Bruder keines. So oder so hat der Held seine Arbeit und ist ohne Taten brotlos, auch er tut, was er kann. Was sich zwischen dem Türstock am einen Ende der Wolle und meiner Hand am anderen entwickelt geht auf keine Stierhaut. Pünktlich wie ein Orakel stellt mich die Hilfe jener Schönen vor meinen Alptraum, dem sein Schlaf den Schrecken raubt. In unaufhörlicher Wiederkehr zerfällt vor dem letzten Atem der Mythos zu Todesfurcht, seiner wie meiner, während draußen der Theseus gefeiert wird. Die Waffe und ich schöpfen zu spät die Suppe derer, die zuvor wie Helden taten. Die ruhmreichen Reichtümer lohnen den Preis der Leistung nicht, den der Bauer nicht kennt. Wir werfen seine Rinder über die Häuser, fegen Ställe aus, als hätten wir nie anderes getan, doch treibt uns allein die Sehnsucht nach der Pfeife des Pflügers. Die Arme der jeweiligen Schönen, die uns das Knäuel in die Hand drückt, oder ihre Augen, die uns in keuscher Scheu aus den heiligen Binsen anflehen, versprechen uns ein Ende allen Tages. Dies Versprechen auf sein Ende leiht uns die Kraft zum Gang durch seine Glut. In jener endlichen Nacht wollen wir keine Hinterhalte fürchten oder legen, nicht klüger oder stärker sein müssen als das vom Volk, dem gut Zahlenden, tödlich Gehasste. Die nächste Tat beraubt das Leid der vorherigen seiner Labung, zur Linderung der Schmerzen bereiten wir uns weitere.
Noch ehe der erste Meter des Knäuels abgewickelt ist, erhalte ich von den Umstehenden bereits zwei Dutzend überzeugende Hinweise und Anweisungen, wie dem Untier beizukommen sei. Hier nun, auf der Hälfte des sehr gewundenen Weges, den zu weisen keiner zögerte, den zu gehen niemand wagte, beneide ich meinen Gegner, den Stier, der aller Furcht bar im Schutze seines Alptraums liegt, bis er mit einem Schlag erwacht von mir, seinem Alptraum. Sein letzter Augenaufschlag erleichtert ihn um die Qual seiner Vergangenheit, dankbar fügt er sich unter die Drecksarbeit meiner Waffe, die mir die Scham wenigstens auf Armeslänge vom Leib hält. Mein Leben ist sein Weg aus dem Labyrinth wie seines meiner hinein, sein Tod mein einziger Ausweg. Am Ende suchen wir immer das Andere. Nur ihr Tod bringt mir jene so nahe, die einzig mich wirklich kennen. Die zweite Hälfte Wegs, erleichtert um das Leben dieses Viehs und beschwert von seinem Tod, tränkt mir den Leib mit seinem Lebensblut. Wie alle weiteren ist dies die letzte Tat für mich.
Oktober 1998
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