Über Wunder
Zuerst hörte ich sie nur. Inmitten der abendlich gedämpften Großraumgeräusche und den Roll- und Pfeiffrequenzen der Zugbewegung erhob sich wie leuchtend die junge Stimme einer Frau: Gesang. In Kadenzen, die vorderhand dem Nahen Osten zuzuordnen gewesen wären, rankte sich ihr mildes Lied zwischen die schläfrigen Fahrgäste des ICE auf der Strecke Hannover-Spandau. Das Wochenende war vorübergegangen mit geschäftlichen Besprechungen, mit betäubend prosaischen, gleichzeitig schmerzhaft profanen Tätigkeiten und Menschen. Ich hatte schon alles vorüber geglaubt, nachdem die Zugtür sich geschlossen hatte wie die einer Druckkammer. Hinter meinen geschlossenen Augen strichen die Ereignisse noch einmal an mir vorbei. Nun das hier.
Ein Wunder, dachte ich. Vielleicht habe ich es auch gemurmelt.
Die stört, knurrt es neben mir.
Ich ließ meinen matten Kopf zu einer Seite fallen und öffnete träge ein wenig die Augen. Nah bei mir sah ich in das Gesicht einer alten Frau. Ein Leben voll harter Arbeit stand darin geschrieben, zu jung zu erwachsen gewesen, Enttäuschung durch die Kinder, wenn sie welche hatte, das Wirtschaftswunder hatte gerade mal für sie selbst gereicht. Enttäuschung durch ihren Mann auch, wenn sie einen hatte, durch seine Schwäche, die sich nach seinem Ausstieg aus dem Berufsleben bei Erreichen des Rentenalters zunehmend gezeigt hatte, die sie stets geahnt, sogar gewusst, aber ebenso lang kraft der ihr eingeborenen Stärke des Willens nicht hatte bemerken müssen, bis der gesundheitliche, dann später auch psychische Zusammenbruch ihres Sohnes diese Kräfte erst zeitweise und dann, wie sich zeigte, dauerhaft beansprucht und von anderen Zonen abgezogen hatte. Da war ihr niemand mehr als sie selbst eine Stütze gewesen. Aber war es denn wirklich jemals anders gewesen?
(…)
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