USA im September I
Wo ich angenommen hatte, schon in der ersten Woche loslegen zu können, habe ich jetzt den Eindruck, diese erste Woche vor allem zur Vorbereitung auf die zweite genutzt zu haben. Diese erste verlief unterschiedlich: Der Aufenthalt auf dem Land war herrlich. Die erdrückende Hitze hinderte mich nicht daran, einen Eindruck vom kleinen Örtchen Woodstock im Bundesstaat New York zu gewinnen. Einige Althippies schlurfen noch perlenbehangen zum Kaffeeladen und verkaufen Meditation und handgemachten Schmuck, aber längst geht es um Immobilien und Hanglage Waldblick. Welch ein herrliche Erfahrung, endlich – 25 Jahre nach meinen ersten New-York-Erfahrungen – auch das Umland kennenzulernen, und wie schön ist es an dieser Küste, in den weiten Wäldern der Catskills, wo Bären und Kojoten hausen.
Das von meinen früheren USA-Reisen erinnerte Gefühl der Fremdheit in der anderen Kultur, auf dessen Einsetzen ich auch diesmal gewartet habe, blieb vollständig aus. Vielleicht bin ich zu alt dafür oder habe inzwischen zu viele andere Arten von Fremdheit erlebt, als dass diese spezielle an der amerikanischen Ostküste mich noch irritieren könnte. Dafür hatte ich mit einem anderen unangenehmen Gefühl zu kämpfen, einem Eindruck von Unwürdigkeit, der sich erst legte, als auch der Jetlag vollständig vorüber war. Mir wurde erst allmählich klar, dass dieses Gefühl mit meinen früheren New-York-Besuchen und USA-Reisen zu tun hatte, bei denen ich häufig und unangenehm lange von der Gastfreundschaft zu wenig bekannter Gastgeber abhängig und außerdem verhältnismäßig mittellos gewesen war. Sowie ich das erkannte, konnte ich mich beruhigen, dass das alles lange her ist und die Lage heute eine andere.
Dass ich mit meinen Gastgebern mitten in der New Yorker Kunstszene gelandet bin, habe ich auch erst wirklich verstanden, als ich mich im Wochenverlauf auf gleich zwei Ausstellungseröffnungen wiederfand, zwischen großformatigen Gemälden Ansammlungen von Menschen, die sich zwei Stunden lang freudestrahlend anschreien und dann mit einem Mal auseinanderstieben, um auf dem Heimweg im Taxi über einander zu tratschen, gerade wie in den Warhol-Tagebüchern.
Ich befinde mich auf dem Weg zur ersten Vernissage, da ballen sich plötzlich schwarze Wolken in den zwischen den „langen Gehäusen“ sichtbaren Himmelsstücken zusammen, und einige Tropfen fallen, die sich aber schneller zu vielen dicken Tropfen zusammenfinden, als ich von der Fünften zur Siebten Avenue gelangen kann, so dass ich (und viele andere) klatschnass in der U-Bahn ankomme. Auch das hatte ich schon erlebt, dass die plötzlichen Regengüsse unversehens Schirmverkäufer aus dem Boden schießen ließen. Wo halten die ihre Schirme den ganzen Tag versteckt? Es war allerdings immer noch sehr warm, so dass ich, als ich auf der 22. Straße ankam, schon fast wieder trocken war.
In den fensterlosen Korridoren des Universitätskomplexes des Graduate Center der CUNY (City University of New York) mitten in Manhattan ist es angenehm kühl, dort lässt es sich gut arbeiten, während sich draußen ein brütender, konstanter, heterogener Strom von Menschen durch den irrsinnig lautstarken Verkehr schiebt. Von zielstrebigen Geschäftsleuten über shoppende Upper-Westside-Damen hin zu mehr oder weniger aggressiv Almosen fordernden Wohnungslosen jeder Sprache und Couleur hämmert dieser Stadtteil auf den Fußgänger ein. Die U-Bahn ist mit ständigen Ausfällen, Umleitungen, Polizei- und Sanitätseinsätzen sowie dem höllischen Geratter der alten Wagen und Gleise ein Stück Arbeit, das man mit Fußmärschen über mittlere Strecken stellenweise vermeiden kann.
Inzwischen sind die Temperaturen dramatisch abgekühlt, auf der Celsius-Skala haben sich die Grade glatt halbiert, und herbstliches Regenwetter hat eingesetzt. Zum Sightseeing bin ich noch überhaupt nicht gekommen, wobei ich zumindest One World Trade Center und die beiden Gedenkbecken downtown nicht verpassen will. Mit zwei Theaterbesuchen konnte ich schon für die nächste Woche aufwärmen, wo mich das Vergnügen nahezu allabendlich erwartet. (Einer davon war AND ON THE THOUSANDTH NIGHT von Forced Entertainment. Jonathan Kalb hat sehr schön darüber geschrieben, ich saß neben ihm.) Tagsüber stehen Gespräche und Termine mit Theaterleuten auf dem Plan, bei denen es um Hintergrundfragen zur amerikanischen Theaterszene, um neue Stücke und alte Bekannte geht.
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