SOLO 6 von John Cage (aus SONG BOOKS, 1970)
Dokumentation der Arbeit mit der Komposition im Rahmen der Reihe 100 JAHRE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN am Theater der Generationen in St. Petersburg unter dem Motto „Das Kreuz der Revolution“
- November 2017
Im Rahmen der Werkstattreihe 100 JAHRE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN gestalte ich zusammen mit dem Regisseur Eberhard Köhler Tag Nummer 7 („Das Kreuz der Revolution“), indem ich mit dem Ensemble John Cages Komposition SOLO 6 realisieren möchte, die der Komponist, in seiner späteren Arbeit zunehmend am performativen Element seiner Arbeit interessiert, im Rahmen der SONG BOOKS (10 Soli für die Bühne) als Teil seiner THEATRE PIECES schrieb. Eine wichtige Quelle war hier vor allem William Fettermans Buch JOHN CAGE’S THEATRE PIECES (Routledge 1996). Da diese Arbeit ein interessantes Experiment und ein wunderbares Erlebnis war und in mancher Hinsicht vielleicht sogar historisch, gebe ich hier eine kurze Dokumentation, ehe ich selber vergesse, was wir versucht haben.
Zunächst müssen eine Reihe von Dingen in Zusammenhang mit der Komposition geklärt werden. Wofür stehen die Zahlen? Es sind 20 Zahlen, die aus einer Vielzahl von Begriffen per Zufall ausgewählt werden sollten. Ich wähle ein Verfahren, nach dem ich 20 Begriffe per Zufallszahlen (Handy-Programm zur Generierung von Zufallszahlen; Seite, Zeile, Wort) aus einem beliebigen Buch (AUS HARTEM HOLZ von Annie Proulx) ermittele. Heraus kommt:
o ein zuverlässiger Mensch
o Achtung erwerben
o ein Fässchen
o etwas Falsches
o Brief
o ungewöhnlich still
o „mit jedem warmen Tag“
o Mutter
o Ureinwohner
o „Land in Sicht“
o Ungeziefer
o ein gutes Herz
o auf dem richtigen Weg
o Stadt
o „Wir brauchen Banken“
o Haare raufen
o Stehplatz
o Kaffee
o ein lautes Geräusch
o Holzstöckchen
Die Arbeitsweise ist dem in traditioneller russischer Schauspielkunst hervorragend ausgebildeten Ensemble fremd, daher gebe ich eine äußerst knappe Einführung zur Person von John Cage und zu den Prinzipien seiner Arbeit. Obgleich Vergleichen zur Erklärung abhold, versuche ich, die Herangehensweise mit der eines Musikers zu verdeutlichen, der sein Instrument spielt.
Wir finden heraus, dass wir die für diesen Tag im Revolutionszyklus vorgesehene Form eines roten Kreuzes auf der Bühne mit einer Drehung um 90° mit der Sitzordnung bei der maßgeblichen Aufführung des „Stücks“ am Black Mountain College 1952 (THE UNTITLED EVENT) verbinden können. Die Zuschauer sitzen jetzt in Keilform zwischen den Kreuzbalken und sehr nah an den Spieler*innen, was den transgressiven Charakter der Arbeit angenehm unterstreicht.
An dem betreffenden Tag in dem Werkstattzyklus stehen 17 Spielerinnen zur Verfügung. Wir möchten dieses gesamte Ensemble einbinden, also setzen wir uns zum Ziel, die Solokomposition als Solo, als Quartett sowie als Kammerensemble mit 12 Spielerinnen zu arrangieren.
Beim Arrangement als Solo würde die Dauer des Stücks keine Rolle spielen (und wird daher, laut Cages Anweisungen, konsequent dem Spieler überlassen). Bei der Ensemblearbeit benötigen wir eine Regelung für eine gemeinsame Zeitspanne, während derer die Spieler*innen ihre Soli parallel zeigen. Die Dauer der drei Sätze ermitteln wir mit Rechenvorgängen aus der Jahreszahl „1917“, dem Revolutionsjahr:
- 19-17=2′
- 1+9+1+7=18′
- 19+17=36′
Die zuvor ermittelten Begriffe werden den Spieler*innen zu Beginn des Prozesses mitgeteilt. Ihre Aufgabe ist es, zu diesen Begriffen darstellerisches Material in Form von disziplinierten Vorgängen („disciplined actions“) zu finden, auf welches die Komposition dann anwendbar ist. Das bedeutet: Objekte (Musikinstrumente, Werkzeug, Alltagsgegenstände etc.), Texte, Zitate, Bewegungen, wobei wir anregen, sich aus dem Fundus der Beschäftigung mit den Revolutionsthemen der vorherigen Tage des Werkstattzyklus‘ zu bedienen. Dafür steht ungefähr eine Stunde zur Verfügung, um ggf. erforderliche Objekte zu beschaffen und die Bewegungsabläufe und Geräusche zu präzisieren und zu notieren.
Während der Entwicklungsarbeit (wie schon Cage zu seiner Zeit arbeiten sie meist mit dem, was im Theater verfügbar ist) entstehen einige Fragen zur Vorgehensweise: Darf ich mit anderen interagieren? Wie gehe ich mit dem Bühnenbild um, darf ich den Raum verlassen? Allerdings gibt es deutlich weniger Fragen als erwartet, was für die Professionalität des Ensembles im Umgang mit unbekannten Situationen spricht.
Nach Ablauf einer Stunde zeigen einige Spieler*innen beispielhaft ihre Vorgänge. Ich stelle die wichtigsten Fragen: Wo fängt der Vorgang an, wo hört er auf? Wie würde der Vorgang in 30 Sekunden aussehen? Wie in 2 Minuten? Auf diese Weise leuchtet den meisten das Prinzip der Komposition und ihrer Interpretation rasch ein. Als nächstes stelle ich die Frage, wie der Vorgang sich verändert, wenn ein „Minus“-Zeichen davorsteht. Oder wenn die zugehörige Zahl kursiv gedruckt ist? Auf diese Weise erläutert sich der Umgang mit der Notation der Komposition recht schnell, wie er in den Anweisungen von Cage knapp beschrieben ist.
Nun zeigen mehrmals zwei Spielerinnen zugleich denselben Begriff. Danach eine Kombination von zwei oder drei Begriffen, wie sie in der Komposition vorkommen. Augenscheinlich stößt die Arbeit rasch auf die Lust der Spielerinnen, die sich im Anschluss an diese anschaulichen Demonstrationen an die Komplettierung der Wortliste machen.
Bei der ersten Präsentation am Nachmittag losen wir zum ersten Mal alle offenen Variablen (Verteilung der Spieler*innen auf die Arrangements, Dauer der Arrangements, Reihenfolge der Arrangements) aus. Es ergibt sich folgende Kombination:
1) das Ensemble mit 18’
2) das Solo mit 2’
3) das Quartett 36’.
Zur besseren Orientierung wird zu Beginn, nach jeweils einem Drittel der Zeit sowie am Schluss ein Gong geschlagen. Das hilft den Spielerinnen, sich die Vorgänge in der zur Verfügung stehenden Zeit einzuteilen. Nach der Präsentation kann ich die wichtigsten Prinzipien an Beispielen noch einmal aufzeigen und beispielhaft dafür einige Vorgänge und Spielerinnen hervorheben. Auf dem Hintergrund ihrer professionellen Ausbildung stellen sich vor allem zwei Fragen, die der Interaktion untereinander bzw. mit dem Publikum, und die der Orientierung des Spiels zum Publikum. Oder dies: Müssen Lautstärke oder Intensität eines Vorgangs nachlassen, wenn sie plötzlich drei Minuten anstatt sieben Sekunden dauert? Zum besseren Verständnis formuliere ich: Spielt ein Musiker mit seinem Bogen auf dem Instrument eines anderen im Orchester (Interaktion)? Kommentiert er/sie das Spiel, indem er/sie sich ans Publikum wendet und betont, „Jetzt spiele ich gleich ein B, hören Sie, wie geschickt ich das mache?“ (Kommentar des eigenen Spiels)
Erwartungsgemäß arbeiten die Spielerinnen mit den Mitteln ihrer Schauspielausbildung: Sie versuchen, dem Publikum etwas zu bieten, unterhaltsam und originell zu sein. Die Schönheit der Darbietung ergibt sich nach dem Kunst- und Ästhetikverständnis des Komponisten jedoch aus den nicht berechenbaren Vorgängen in Kombination mit der Interpretation der Komposition durch die Spielerinnen sowie gegebenenfalls durch die zufällige Kombination mit den anderen Soli. Neben dieser stilistischen Falle stellt sich den Spielerinnen vor allem die Herausforderung, einen Vorgang präzise zu definieren, mit klarem Anfang und Ende, und zu verstehen, welche Rolle dabei die Stille vor und nach der Handlung spielt, die diese erst definiert. Wo die Spielerinnen das verinnerlichen, entstehen sofort sehr schöne Momente. Ich habe mich in meiner bisherigen Arbeit gefragt, ob sich die Arbeitsweisen dieser avantgardistischen Theaterarbeit und die psychologische, realistische Schule wirklich ausschließen. Könnte ein „Vorgang“ nicht ebenso gut ein emotionaler, schauspielerischer Moment sein? Theoretisch sollte es doch keine Rolle spielen, ob dieser Vorgang physischer oder psychischer Natur ist, beides sind Schauspielvorgänge, das Entzünden eines Streichholzes, das bis auf den Finger abbrennt, oder das Lauschen auf eine erinnerte Stimme und die emotionale Reaktion darauf. Zum ersten Mal sehe ich bei diesem Versuch mit dem Werkstattensemble im Theater der Generationen genau das geschehen, und selbstverständlich erzielt dies die Bereicherung der Vielfalt des Cage‘schen Universums, auf die ich immer gehofft hatte. Ist nicht darin eigentlich erst die Cage-Komposition wirklich auf dem Theater angekommen, indem die volle, also auch psychologisch-emotionale Bandbreite der schauspielerischen Mittel, im Rahmen der Komposition als Material verwendet wird?
Per Losverfahren werden am Abend zum zweiten Mal öffentlich ermittelt:
o Die Zuordnung der Begriffe zu den Zahlen in der Komposition. Dabei werden die Begriffe laut verlesen.
o Die Zuordnung der Spieler zu den Gruppen
o Die Zuordnung der Zeiten zu den musikalischen Sätzen
o Die Reihenfolge der musikalischen Sätze (Solo, Quartett, Ensemble)
Es ergeben sich folgende Sätze:
1) Ensemble mit 18’
2) Solo mit 36’
3) Quartett mit 2’.
Das Resultat am Abend verblüfft noch einmal durch den Qualitätssprung der Spielerinnen, ihre Disziplin, ihre Präzision. Eine knappe Stunde lang wandern die Blicke der Zuschauer in berechneter Überforderung genüsslich und gebannt von einem spannenden oder unscheinbaren Moment zum nächsten. Da alle Spielerinnen dieselbe Partitur und dieselben Begriffe verwenden, fällt die Dynamik besonders auf, wenn es im Raum lauter oder schneller oder eben stiller und langsamer wird. Die Achtsamkeit des großen Ensembles auf engem Raum ist bezaubernd, die abgemessene Pointiertheit des Quartetts als entschiedener Schlusspunkt geradezu beglückend. Besonders sticht der junge Puppenspieler hervor, dem das eigene Los des Solos über 36’ zufällt. Der Spieler geht mit sehr hohem Einsatz an die Aufgabe und gibt damit ein hervorragendes Beispiel der Cage eigenen „Impassivity“, der Gleichmütigkeit oder Unbeteiligtheit. Auch wenn er sich durch zahlreiche sportliche Übungen wie Liegestütze, Kopfstand, Purzelbäume oder anstrengende Positionen körperlich sehr verausgabt, bleibt er nüchtern und macht cool weiter. Er erntet begeisterten Applaus von einem gebannten Publikum.
Die Konfrontation des Ensembles mit dieser ihnen vorderhand fremden Ästhetik und Herangehensweise erweist sich weitestgehend insofern als erfolgreich, als dass sich die Spielerinnen mit einer dankbaren Kombination aus Wagemut und rückhaltlosem Einsatz in den Versuch werfen und so ein Höchstmaß an Erfahrung machen können. Die Ergebnisse am Nachmittag und am Abend reflektieren einige der zentralen Werte in der Philosophie des Komponisten, Achtsamkeit, Respekt, Kreativität, Eigenverantwortlichkeit, Hierarchielosigkeit, Genuss und Freude, Offenheit für Erfahrungen. Spielerinnen und Publikum sind in der Erfahrung, die ihnen beiden gleichermaßen neu ist, verbunden, und dennoch ist die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, obgleich auf ein intimes Minimum herabgesetzt, deutlich gewahrt. Genauer gesagt: die Differenz zwischen aktiven und passiven Mitwirkenden – und damit der Ereignischarakter des Theaters – ist, vielleicht sogar gerade durch die unmittelbare Nähe der Personen(gruppen) zu einander, noch hervorgehoben.
Der gesamte Ablauf des Abends sieht so aus:
o Gong zum Beginn.
o Beginn der Auslosungen.
o Rückzug der Spieler*innen, die ihr Material an die nun bekannten Umstände anpassen.
o Sehr kurze Begrüßung und Vorstellung meiner Person. Ich erläutere kurz unser Vorhaben und welche Rolle die Auslosungen spielen.
o Verlesen einer Rede von Michael Schischkin durch Danila Korogodsky.
o Erstellen von Faltzeichnungen durch je zwei Zuschauer gemeinsam.
o Rückkehr der Spieler und Präsentation aller drei Sätze hintereinander.
o Ausstellung der Zeichnungen.
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