Im Süden
Kreta im Juli 2013. Eine Woche zwischen mehrere Tausend Jahre alten Olivenbäumen, die sieben Männer nicht umfassen können, zwischen Griechen, deren Gürtel ihnen inzwischen schon die Luft abschnürt, zwischen Thunfisch, Tauchern und Minoern.
Anreise
Flughafen Schönefeld. Juli. Ich versuche, das passende Konzept, die angemessene Geisteshaltung zu finden, um nach Wochen intensiver Arbeit nun sieben entspannte Tage auf Kreta zu verbringen. Kreta ist Neuland für mich, Griechenland nicht. Ich bin merkwürdig angespannt vor dem Abflug. Die Vision von Kreta, vor zwei Wochen als „Mal weg sein“, „Mal raus aus der Stadt, aus der Familie, den üblichen Netzwerken und Wahrnehmungsmustern“ noch ein sich selbst bestätigendes Ideal, steht plötzlich als angstbesetztes Bild von Einsamkeit, logistischer Katastrophe, wenig vergnüglicher Isolation vor mir. Mein Umfeld reagierte auf mein Reiseziel mit Stirnrunzeln: ist das klug jetzt, wo dort die Deutschen sicher nicht willkommen sind. Mensch, denk doch an die Demos, wo Merkel mit SS-Uniform, Schäuble mit Hitlerbärtchen gezeigt wurde. Man war zögerlich. Ich neugierig. Zu guter Letzt habe ich Mahlkes RECHNUNG OFFEN und Tobars IN DEN HÄUSERN DER BARBAREN im Koffer noch schnell ersetzt durch David Foster Wallace‘ INFINITE JEST. Damit habe ich den Aufenthalt endgültig zum literarischen Arbeitsurlaub erklärt. Es wird also eine doppelte Reise: in unbekanntes geographisches sowie literarisches Terrain.
Im warmen Abendlicht vor dem Flughafen wartet Marlen[1] auf mich, eine dickere, ältere Frau, rot gefärbte Haare beißen sich mit einem einfachen rosa Kleid und dem lilafarbenen, winzigen, älteren Fiat Seicento. Sie ist ohrenscheinlich aus den Niederlanden und spricht ein lustig akzentuiertes Englisch. Tunlich frage ich sie über die brennendsten Themen aus:
1. Wie spürbar ist auf Kreta die griechische Misere?
2. Wie hat es sie, Marlen, nach Kreta verschlagen?
Ad 1: Sie berichtet, dass es den Kretern genauso schlecht geht wie dem Rest von Hellas. Griechenland hätte immer schon ein Problem gehabt, die jetzt besonders zutage träten: es ist mit geringer Bevölkerungsdichte auf große und vor allem oft weit auseinander liegende Fläche verteilt. Die Infrastruktur – z. B. öffentlicher Personenverkehr, Behörden, Kliniken – müssten aufwändig für jeweils kleine Populationen einer Insel, Provinz oder entlegenen Bergregion bereitgestellt werden. In der Krise werden genau diese öffentlichen Stellen jetzt gestrichen. Die Finanzämter (wie alle Behörden) werden zentralisiert, also gehen die Leute seltener hin. Gleichzeitig werden die Auflagen für Anmeldung von Hilfskräften sowie z. B. die Besteuerung von Mindesteinkommen oder Wohneigentum radikalisiert, Freibetragsgrenzen gestrichen. Der Landbevölkerung geht es noch ein wenig besser, weil sie tatsächlich einen Teil der Nahrung selbst anbauen kann. Aber sehr gering verdienende Bauern im Alter, die wenigstens immer ihr eigenes Haus besessen hätten, müssen nun von null Einkommen darauf Steuern zahlen. Überhaupt: Steuerzahlen steht schlecht im Kurs: wieso einen Staat stützen, der der Bevölkerung nichts geben kann, nur nimmt, denkt sich reflexartig der Bürger. Besonders schlimm falle das für Kliniken ins Gewicht, da die medizinische Versorgung nur noch mangelhaft gesichert sei. Junge Menschen, die vielleicht in der Stadt etwas gemietet hatten, wohnen wieder vermehrt bei den Eltern. Marlen selbst hat einen Job bei einem Tourismusbüro, aber hauptsächlich auf dem Papier, sagt sie, damit sie die Krankenversicherung behält. Busse fahren seltener. Mehr Leute bieten unter der Hand Schwarztaxidienste an, so wie sie. Daher gebe es vermehrte Kontrollen am Flughafen durch Polizei. Marlen bleibt inzwischen lieber im Auto sitzen. Schon dass sie kein Nummernschild aus der Gegend habe, sei von Vorteil, da man ihr leichter abnehme, dass sie Freunde abhole bzw. herbringe.
Ad 2: Sie ist vor zehn Jahren in den Niederlanden arbeitslos geworden, dann zweimal im Urlaub hierher gekommen und fand den Lebensstil so attraktiv, dass sie vollends hergezogen ist: die Menschen legen weniger Gewicht auf Besitz, mehr auf Gemeinschaft und Lebensfreude. Das fände sie wichtig. Sie soll nicht die letzte Aussteigerin bleiben, der ich begegne.
Die Sonne ist ganz hinter den Dikti-Bergen untergegangen. Im Dunkeln an einem unbekannten Ort anzukommen, verzerrt unangenehm die Wahrnehmung, weil die Orientierung und der erste Gesamteindruck stark eingeschränkt sind. Entfernungen können nicht eingeschätzt werden, alles scheint unpraktisch, dreckig, hässlich. Aber zuweilen ist die Erfahrung ja auch ein guter Ratgeber, so dass ich auf dieses Unwohlsein nicht viel gebe und den nächsten Morgen abzuwarten beschließe. Noch ehe wir ganz da sind, bittet mich meine Chauffeurin, sie doch jetzt schon zu bezahlen, da meine Pension gleich neben den örtlichen Taxifahrern liege, und sie möchte das nicht unter deren Augen abwickeln. Die Scheine klemme ich auf der Ablage vor mir. Ich lasse mir von der ebenfalls älteren, dickeren Sabina[2], gleichfalls im schlichten Kittelkleid, das Zimmer und den Weg ins Dorf zeigen. Der Ort ist so klein, ich falle nach wenigen Metern unweigerlich auf die Promenade und esse neben Griechisch und Englisch sprechenden Touristen eine Pizza und trinke lasches Bier. Das schwarze Meer leckt am Strand, anstelle von Berliner Spatzen umschleichen die Tische kretische Katzen. Im Nachttischchen lag ein Reiseführer von 2003, ich lese mich in die kretische Geschichte ein. Erschöpfter nächtlicher Panoramablick über die Geschichte der ältesten Kultur Europas: Rätsel geben den Archäologen die schlecht datierbaren Funde der minoischen Kultur auf, insbesondere, was ihr Ende um 1450 v. Chr. angeht. Die ursprüngliche These des Untergangs dieser frühen Hochkultur durch einen Tsunami beim Ausbruch des Santorini-Vulkans lässt sich nicht belegen, wenn der Vulkan nach dem Ausbruch allmählich zusammengesunken, anstatt explodiert ist. Vielleicht waren doch eher die Mykener Schuld, also die vor 3500 Jahren neu aufkommenden Mächte im Nordwesten. Viel später haben wie überall auch hier die Deutschen (die mit dem Expansionskrieg) gewütet und sowohl verbrecherisch dumme Landemanöver wie dann auch Massaker verübt. Die Geschichte erklärt Kreta sowieso zum Opfer aller jeweils dominanten mediterranen Seemächte.
Erster Tag
Mücken und Hitze machen die erste Nacht sehr kurz. Dafür sieht das Örtchen am Morgen so ruhig aus, wie ich gehofft hatte. Von der überdachten Terrasse hoch über der Stadt sehe ich am Horizont Nissos Chrissi liegen, die Goldinsel, ein Wind weht lau, während die Sonne schon ordentlich brennt. Sonnencreme kostet bis zu zwanzig Euro, Obst ist billig. Um acht singen Männer in der Kirche unten am Hang tiefstimmige Gesänge. In dem Haus mit fünf Apartments bin ich der einzige Mieter und am Strand der zweite Badende des Tages. Den griechischen Mokka im Promenadencafé trinke ich mit zu viel Zucker. Das Meer liegt vor mir silbrig vom flachen Morgenlicht. Alles stimmt. Alles herrlich. Ich grabe mich im Wallace voran.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, am Sonntag um zwölf Uhr mittags von Mirtos nach Ierapetra zu trampen. Ierapetra ist die größte Stadt an der Südküste und liegt zwanzig Busminuten weiter östlich an der Küste. In gerader Linie in dieser Richtung liegen in 700 Kilometern Nikosia auf Zypern, und 925 Kilometern von hier ist man in Tartus, Syrien. Zwar hat mich am Ortsausgang Mirtos gleich das dritte Auto mitgenommen, ein holländisches Paar in einem alten Fiat Panda. Ich konnte zwei wunderbare Stunden in der Stadt verbringen und mich auf Überresten venezianischer Festungsbauten glücklich fühlen. Der Ort war lange wichtig für den Handel mit Ägypten und dem Nahen Osten. Die zeitunglesende Museumswärterin in der winzigen Archäologischen Sammlung schrie schon um halb drei zwei willige Besucher des winzigen Museums an: „Three o’clock close! Close!“, so dass diese erschrocken zurückwichen und ihr abwägendes Interesse an einem Besuch sich verschreckt dahin zurückzog, woher es gekommen war. Dabei warteten im in einer Art Stallgebäude untergebrachten Museum sehr alte, rührend bemalte Sarkophage aus Episkopi und Vasiliki in der unmittelbaren Umgebung. Um Punkt drei schloss die Frau das Haus ab, und ich fand, dass jetzt Zeit wäre, zurückzutrampen.
Aber in der sonntäglichen Mittagshitze draußen sah es mittlerweile aus wie nach der Endzeitkatastrophe. Noch während ich die verlassene Straße hinunter ging, bogen die wenigen verbliebenen Fahrzeuge rechts und links ab und verschwanden zwischen den Häusern. Nichts fuhr mehr. Ich ging weiter aus der Stadt hinaus in Richtung Westen, den Daumen erhoben, sobald sich in der flirrenden Hitze ein Fahrzeug näherte. Hin und wieder ein Lastwagen. Gelegentlich ein voll besetztes Auto, Gesten des Bedauerns hinter der Windschutzscheibe. Dann keine Autos mehr. Was zunahm, waren der Sonnenbrand auf meiner ungeschützten Haut und mein Durst. Wieder ein Wagen – der Beifahrer, ein junger Mann, zeigte mir den Finger, während die Rückbank hinter ihm einladend frei war. Ich begann, mit mir selbst zu sprechen und mich zu beschimpfen für meine Leichtsinnigkeit. Nach über einer halben Stunde in schattenloser Glut hält endlich ein hübscher junger Mann, rotäugig bekifft, die Ladefläche seines Pickup voller großer Boxen. Auf dem Weg nach Mirtos berichtete er mir erst auf Englisch von dem Auftritt seiner Reggaeband in Agios Schlagmichtot vor zwei Tagen, dann auf Deutsch, das er bis zum Alter von 8 Jahren in Nürnberg gesprochen hatte, vom zusammengestrichenen Busverkehr auf der Insel, so dass sonntags überhaupt keine Verbindung mehr auf dieser Küstenstraße fahre. Zweimal frage ich nach, wo die Band als nächstes auftreten würde, konnte den Namen des Ortes aber beim besten Willen nicht verstehen. Trotzdem: sehr sympathisch.
Der Hitze sind zwar wunderbare Seiten abzugewinnen, aber nicht ohne gewisse Missstände, z. B. die Mücken, die hinzunehmen ich absolut nicht willens bin. Wie ein Kranker, der zwar weiß, dass die Krankheit nicht ernst ist und vorübergehen wird, und dass die unangenehmen Symptome, die auf dem Weg zum endgültigen Abschied von der Krankheit aber noch zu erwarten sind, nicht notwendig erduldet, sondern mit ein oder zwei vollkommen durchschnittlichen Arzneimitteln schlicht abgestellt werden können, so sage ich mir, dass ich auch diese Mücken oder auch die nächtliche Hitze getrost mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln abstellen kann. Die Klimaanlage hat das geräumige Studio um zehn Grad heruntergekühlt, und ob dieses Elektrodings für die Steckdose gegen die Mücken wirklich hilft, werde ich in zirka zwei Stunden wissen.
Ebenfalls auffällig sind die überhaupt nicht meditativ und eintönig ein Geräusch vor sich hin produzierenden Zikaden, welches man vielleicht aufgrund einer gewissen sprachlichen Trägheit als Zirpen zu bezeichnen bereit wäre; vielmehr kreischen und schreien diese Tiere unsichtbar aus Bäumen und Büschen (wissend, dass sie ihre Geräusche auf eine Weise hervorbringen, welche diese Ausdrücke verbietet) auf eine derart anklagende, aufgebrachte, empörte, jedenfalls jemanden oder etwas meinende Weise, dass sich, wer sich ihnen nähert, unweigerlich angesprochen fühlen muss. Da sie aber aufhören, wenn der Passant vorübergeht, scheinen sie entweder nicht ihn zu meinen, oder sie gehören jener Spezies von Feiglingen an – dem Gegenteil der Whistleblower -, die umso lauter schimpfen, je weiter der Beschimpfte außer Hörweite ist.
Zweiter Tag
Die Sonne ist schon um Viertel nach acht fleißig mit Einheizen beschäftigt. Ich weiß nicht, ob das Mückenmittel etwas genützt hat, aber immerhin war die Klimaanlage so laut, dass ich die Viecher nicht gehört habe. Auf dem Meer schwimmt irgendein schlieriges Zeug, ich traue mich nicht hinein, weil ich überzeugt bin, dass es sich um irgendwelche Fischabfälle handelt. Im Dorf spült ein Mann im fortgeschrittenen Alter mit Hilfe von zwei Frauen vier große, schwarze Thunfische mit riesigen Augen im Rinnstein mit einem Schlauch ab. Die Fische sehen glatt, perfekt, schön aus und kaum tot. Ich kaufe Eier und Brot und versuche, meine Planung an die klimatischen Verhältnisse anzupassen. Touren sind eigentlich nur früh morgens oder später am Nachmittag möglich, über Mittag ist es einfach zu heiß.
Im Tourismusbüro erfahre ich, dass begeisterte Privatpersonen mehrere Wanderrouten in die nahen Berge erkundet und markiert und für kommende Aktive wie mich dokumentiert haben. Ich kaufe das entsprechende Heftchen für 3,50€ und nehme für den Anfang eine dreistündige Wanderung das Tal hinauf und in einem Bogen zurück in Angriff. Der Weg führt bald in ein Seitental voller Olivenbäume, darunter gelegentlich ein ausrangierter PKW, immer wieder heiser und böse bellende Hunde, zum Glück immer an Ketten oder hinter ausreichend hohen Zäunen. Der Weg führt einen Hang hinauf, wo die Vegetation abrupt endet. Nur noch nackte Erde und ein paar verkohlte Stängel. Der ganze Berg ist offenbar vor nicht allzu langer Zeit von einem Feuer abgefressen worden. Immer wieder vergleiche ich die Wegbeschreibung mit dem Weg, die Karte mit dem Gebiet, und erreiche nach einer Stunde eine Straße, der ich bergauf folge, bis sie nach einer Kurve an einem Wohnhaus endet. Das erste Mal verlaufen. Ich gehe zurück zum letzten bekannten Punkt, dann weiter auf dem richtigen Weg. Aber bald nehme ich wieder eine falsche Abzweigung und lande auf der Autostraße, anstatt auf dem unbefestigten Fußweg – zweites Mal verlaufen. Die Schatten werden länger. Hier sinkt die Sonne schnell und berührt schon die Gipfel. Ich versuche, auf den Fußweg im Tal zurückzukommen, aber da ist kein Durchkommen – drittes Mal verlaufen. Schließlich muss ich wieder auf die Straße zurück und diesem unschönen, aber sicheren Weg folgen. Nach fast dreieinhalb Stunden bin ich wieder im Ort. Das Meer hat sich noch nicht so gut angefühlt wie jetzt. Auch den frischen Thunfisch bekomme ich billiger, weil so wenige Kartoffeln dabei waren. Der Vollmond, dem zu Ehren in einer halben Stunde ein Vollmondfest auf der Promenade stattfinden soll, steht bereits eindrücklich und erwartungsfroh über dem Meer, in Richtung Saudi-Arabien, würde ich schätzen. Die Beine schmerzen. Das Bett wispert Lockungen.
Dritter Tag
Daria[3] ist Anfang fünfzig und nimmt mich in ihrem Panda früh morgens mit zur vorantiken, minoischen Siedlung Gourniá in Richtung Agios Nikolaos. Leider ist mit ihr nicht gut reden, denn sie hat offenbar die erste Zigarette noch vor sich und spricht außerdem ungefähr soviel Englisch wie ich Neugriechisch. In Gourniá, einem Trümmerfeld auf einem Hügel, bringe ich als einziger Tourist eine Stunde zu und bemühe mich, aus reichlich Grundmauern etwas wie eine Stadt herauszuimaginieren. Mir scheint, die so genannten Minoer verfügten über ein erstaunliches Maß an Infrastruktur, Handel, Handwerk, sogar Kanalisation, sie hatten was zu verkaufen, sie hatten viel Gesellschaft, Schiffsverkehr, sie hatten ihre höchste Instanz direkt vor Ort – alles interessant und abwechslungsreich. Wahrscheinlich kamen Besucher, Händler etc. und also Nachrichten aus anderen Weltteilen. Die Ruinen singen: nicht nur, wer mehr Technik hat, kann glücklich sein. Die Funde sprechen von einer funktionierenden, angenehm und vor allem schön anmutenden Hochkultur. Über das politische System und den Grad an persönlicher Freiheit in der so genannten minoischen Kultur wissen wir nicht viel.
Fleißig beschäftigt unter Phoebus’ rasch aufsteigendem Sonnenwagen sind die amerikanischen und kanadischen Studenten der Universität Buffalo, NY, die hier Ausgrabungen vornehmen – ein Ereignis, dass nicht häufig live zu sehen ist. Ihre sehr anstrengende Arbeit – irgendwas vermessen, Erdreich bewegen, viel Wegräumen, Aufräumen, dann mit kleinen Besen etwas freilegen, mit einem kleinen Spachtel irgendwo kratzen und möglicherweise mit einem Fund die Geschichtsschreibung verändern – verrichten sie konzentriert und leider nicht redefreudig. Die Archäologie weiß von nichts anderem als den physischen Funden, den Dingen. Dinge haben keine Leidenschaften. Sie können sich nur passiv verändern, jede Veränderung, die mit ihnen vorgeht, erleiden sie durch einen Willen, der auf sie einwirkt. Beim Gang über eine noch so spektakuläre Ausgrabungsstätte erschließt sich nichts über das Leben der Menschen dort von selbst, immer muss eine Herleitung die Chiffren der Funde erläutern und interpretieren, ihnen einen Kontext und so erst Sinn geben.
Daria und ihre Kollegin müssen den Arbeitstag zusammen in ihrem wenig präsentablen Kassenhäuschen verbringen, in der Ecke eine Ikone. Ich lehne die freundliche Einladung ab, dort auf den Bus zu warten, der in zwei Stunden kommt, und versuche es lieber wieder mit Trampen. Tatsächlich hält bald ein Albaner in einem schwarzen Daimler. Er sei seit 98 hier, fertige Marmor- und Steinarbeiten an Baustellen: Treppenstufen und Terrassenverkleidungen, und in Albanien fahren alle nur Benz. Überhaupt gebe es viele Albaner in Griechenland, nur merke man das nicht so, weil die alle sofort griechische Namen annehmen. Die Griechen haben eben nicht das beste Verhältnis zu den Albanern. Er komme gerade aus Iraklion, wo er wegen eines Dokuments hin musste. Bisschen unangenehm, sagt er, weil sie dann auch seine ganzen Strafzettel und so in den Akten entdeckt hätten, aber das hätte er jetzt bezahlt, das sei jetzt erledigt. Aber überall werden jetzt eben Administrationsstellen gestrichen, jetzt müsse man wegen jedes Zettels nach Iraklion. Und sie verlangten immer mehr Steuern. Wer solle das alles bezahlen? Wovon? Er fährt mich direkt zum Bus in Ierapetra, der mich für 6€ nach Mirtos bringt.
Ich bekomme allmählich gehörigen Muskelkater in den Gesäßmuskeln von der Wanderung am Vortag. Die Beine selbst gehen schon wieder (sic!), aber der Hintern ist schmerzhaft. Sehr klar sehe ich Nissos Chrissi am Horizont, flache Erhebung neben zwei höheren Erhebungen, weiße Punkte am Meeressaum. Hübsch. Meine vorherige Einschätzung der Geographie gestern war falsch. Genau südlich der Strandpromenade liegt Ägypten, ca. 500 km entfernt, gleich daneben Libyen. Saudi-Arabien hat überhaupt keine Mittelmeerküste, sondern wird von Ägypten und Israel am Zugang gehindert, sozusagen. Geographie! Wunderbar gebadet, wunderbare Dorade, wunderbarer Mondaufgang. Abkühlung: nur noch 27°C.
Vierter Tag
Ich bin noch etwas benommen. Pralle Sonne am frühen Morgen ist schwierig. Es ist sehr ruhig, als wären die meisten der Bewohner weg und nur die dämlich gurrenden Tauben noch da. Kaum Autoverkehr. Schon ist die Hälfte der Zeit hier rum.
Zur Entspannung unternehme ich einen kleinen Spaziergang zu den Resten einer minoischen Siedlung direkt am Ort, die gar nicht so klein war/ist. Sie nimmt den ganzen Hügel gegenüber Mirtos ein. In erhabener Lage hoch über dem Meer stehe ich zwischen den Resten eines Tempel mit Blick auf den über der Meeresfläche grandiosen Auf- und Untergang von Sonne und Mond, den ich selbst in diesen Tagen oft beobachten kann. Eine gepflasterte Straße ist noch zu sehen, die sich spiralförmig den Hügel hinaufzieht. Vor 3700 Jahren war das Flussbett und überhaupt das Tal sicher noch nicht so tief und das Schwemmland, worauf Mirtos heute steht, sicher auch noch nicht von den Bergen herabmigriert. Der Hügel war also bestimmt schon ein Hügel, aber vielleicht nur halb so hoch und näher an einem Fluss, der vielleicht ganzjährig geflossen ist. Wahrscheinlich gab es auch viel mehr Bäume, denn der Reiseführer von vor zehn Jahren überliefert, dass die Türken während ihrer Herrschaft über die Insel vor fünfhundert Jahren fleißig abgeholzt haben.
Am Abend wird auf der Promenade ein neues Kafenion eröffnet. Ein Kafenion ist eine Bar, in der es nur Getränke gibt. Ein Toast bestenfalls. Ich spreche die junge Frau an, die ich für die Geschäftsführerin halte. Weit gefehlt: sie arbeitet in diesem Sommer aushilfsweise als Ladenhüterin in diesem und einem Souvenirladen zwei Straßen weiter. Das machen Sie dann immer im Sommer, frage ich. Jeden Sommer etwas anderes, seufzt sie. Das muss dann jeweils für den Winter reichen. Insbesondere für Frauen, weil sie für die im Winter fälligen kraftintensiveren Arbeiten wie Olivenernte, Bauarbeiten etc. ungern genommen werden.
Fünfter Tag
Als ich im Touristenbüro nach Tauchmöglichkeiten frage, verweist man mich an den Auswandererholländer Joost[4]. Wegen der noch nicht geborgenen antiken Fundstücke ist Flaschentauchen vor der Südküste verboten, daher bietet er nur noch Schnorcheltouren an. Auch er selbst, Inhaber von vielen Tauchzertifikaten, hat das Scuba-Tauchen aufgegeben, weil er nicht jedesmal an die ferne und ihm unangenehme Nordküste fahren will.
Morgens, als die Sonne noch nicht so grillt und im Wasser ein schönes Licht wirft, ziehen wir die Flossen über und treiben ein wenig zwischen den Felsen vor dem Strand herum. Wir sehen ein paar kleinere bunte Fische, ein paar seltsame schwarze Schwämme, alles eher gemütlich als aufregend. Die Tour macht Joost gratis, aber ich spende 10€.
Es ist deutlich über 30°. Ich habe das Gefühl, ich sollte ruhen. Stattdessen will ich nachmittags noch einen kleinen Spaziergang machen. Tatsache ist, ich kann nicht nichts tun. Nicht überhaupt nichts. Das geht nicht, das ist keine Freude, das ist Depression. Aber noch ist es zu heiß.
Meine deutsche Vermieterin hat um Barzahlung gebeten. Wie auch schon die Ladenhüterin gestern, schildert Sabina mir ihr unsicheres, saisonabhängiges Lebensmodell, bei dem die Einkünfte im Sommer die Kosten bis zum nächsten Sommer decken müssen. Wir wurschteln uns durch, ihr Lachen kann eine gewisse Hilflosigkeit nicht verhehlen. Bisher ging es immer irgendwie.
Für eine letzte größere Tour mache ich mich am späteren Nachmittag auf den Weg am ausgetrockneten Flussbett entlang das Tal hinauf. Alle zehn Minuten werde ich von Hunden aus den Pflanzungen rechts und links unengagiert bis hasserfüllt angeblafft, aber wie schon auf der ersten Wanderung begegnet mir keine Menschenseele. Ich passiere die alte osmanische Brücke, ein schlichter, robuster Bogenbau mit gepflasterter Straße, der seit über dreihundert Jahre über das Säsonalrinnsal führt. Die neue Brücke auf der Küstenstraße einen Kilometer von hier hat dieses Bauwerk weitgehend arbeitslos gemacht. Ein Stück weiter versorgt eine in der nackten Landschaft stehende Pumpe mit Elektromotor die Gewächshäuser im Tal mit Grundwasser und schickt ein unerträgliches, heulendes Geräusch über das Tal. Ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, wie einfach und lohnend eine Schallverkleidung um das kleine Pumpding herumzubauen wäre. Nach einer Stunde biege ich ganz entsprechend der Beschreibung im Wanderheftchen einen steilen Pfad hinauf und steige durch zikadenbeschrieene Olivenhaine. Die Stämme der Bäume sind zum Teil so dick, dass die Bäume schon hier gestanden haben müssen, als Columbus noch nicht gezeugt war. Später erfahre ich, dass die ältesten tatsächlich 3.500 Jahre als sind und also von den Minoer selbst gepflanzt wurden, die die Olivenzucht erfunden haben.
Weit oben biege ich auf eine kleine Asphaltstraße, die mich in das Dorf Mithi bringt. Um einen Brunnen mit der obligatorischen Gedenktafel für die Kriegsopfer herum liegen ein paar Kafenions, in einem sitzen die Männer des Dorfes zusammen. Das Dorf ist sehr ruhig, klein und bergdorfmäßig verwinkelt, soweit das bei zwei Straßen möglich ist, aber sehr hübsch. Die Häuser sind weiß getüncht und schön und fertig gebaut, oft mit Blick über das Tal bis zur Küste und zum Meer, von dem eine leichte, erfrischende Brise heraufweht. Wer die Abgeschiedenheit mag, muss hier gern wohnen. Die Straße ist gerade mit einem profimäßigen Ablaufkanal für das Winterwasser aus den Bergen ausgestattet worden, die direkt hinter dem Dorf schroff aufsteigen. Dort liegt auch ein minoischer Pfad, den ich als Wandertour leider verpassen werde, ebenso wie die schöne Schlucht, die von hier aus leicht zu erreichen ist, wenn man nicht schon zu Fuß von ganz unten heraufkommt. Ein anderes Kafenion duckt sich unter eine riesige Ulme, die wie der Dorfdrache mehr daliegt als steht. Hier trinke ich den besten winzigen Mokka der Woche, serviert von Maria[5]. Als ihr halbnackt im Schatten sitzender Mann hört, dass ich aus Berlin bin, radebrecht er auf Englisch, dass er kürzlich Verwandte in Hamburg besucht hätte. Ich verabschiede mich und spaziere weiter an sehr hübsch gelegenen einzelnen Häusern am Hang vorbei wieder bergabwärts.
Im Restaurant abends spielt jemand Gitarre und singt erst amerikanische Evergreens der Schnulz- und Hippie-Szene (Like a bridge over …), worst of Siebziger und Achtziger und ich singe bei allem mit und denke, noch eins, dann muss ich unbedingt weglaufen. Dann werden die Lieder zum Glück griechisch, das verstehe ich wenigstens nicht, aber da singt die örtliche Jugend mit, und es wird offenbar: hier sind alle Hippies. Die lieben ihr kleines Dorf, was gut ist, die lieben ihre Gemeinschaft, alle 600 Einwohner kennen sich mit Namen, jeder weiß alles, niemand kann sich gegen die Gemeinschaft wenden. Das ist Clanleben, das geht nur schnulzig.
Sechster Tag
Obwohl die Scheiben im Bus nach Iraklion abgedunkelt sind, tragen viele Leute Sonnenbrillen. Kaum jemand reist allein. Bei der Vorbeifahrt an Gourniá sind die Amerikaner/Kanadier nicht zu sehen. Nur am Osthang vermessen zwei Leute die Grabung. In der Hauptstadt der Insel angekommen, nimmt der Taxifahrer für eine Fahrt einmal um den Busbahnhof zu einem allerdings völlig ausreichenden Hotel korrekte 5 EUR. Das Zimmer ist ungefähr ein Drittel so groß wie das in der Mirtos-Pension und irgendwie ruhig gelegen, wenn man von den Flugzeugen absieht, die alle halbe Stunde über das Haus donnern und die Scheiben zum Rasseln bringen. Alles cool. Ich mag Hotelzimmer.
In der Innenstadt unhübsche, rauchende Russinnen in Touristencafés. Hübsche, leider bisschen nuttig runtergeputzte Russinnen mit ihren Ehemännern auf dem Basar. Speisekarten auf Russisch. Schon 10 km vor der Stadt „auf der grünen Wiese“ (eine hier unpassende Metapher) steht ein Pelzgeschäft neben dem nächsten, die riesigen Schilder sollen die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf der Hauptstraße Vorüberfahrender erregen und lassen mit der kyrillischen Aufschrift „mexa“ und „????“ keinen Zweifel, wer die Kunden sein sollen. Wer Griechenland, wer Kreta kennenlernen möchte, vermeide Iraklions Zentrum.
An der Hafenmole um die wegen Renovierung eingezäunte und geschlossene venezianische Festung Koules herum verstreut versucht eine rumänische Familie, irgendwie an Geld zu kommen: wer nicht arbeiten kann (Kinder, Alte), bettelt mit mehr oder weniger gekonnter Akkordeonmusik, wer erwachsen ist, angelt das Essen zusammen, wozu ein langer Stock genügen muss. Das heißt: Mann angelt, Frau läuft ihm mit Utensilien hinterher oder findet für den Angelmann Schnurreste im Fischereihafenmülleimer, die sie mit den Zähnen auf eine besser geeignete Länge beißt. Wer die Haupteinkaufsstraße hinunterschlendert, zieht die zuhälterhaften Lockrufe der Kellner auf sich, sich doch zu den sonnengeschwärzten Profitouristen zu setzen, die auch fürs Essen die Sonnenbrille nur mal eben unters Kinn haben rutschen lassen (immer noch die Bügel auf den Ohren!). Ebenfalls hier zu sehen die afrikanischen Straßenhändler, die in jeder mediterranen Touristenmetropole Uhrenkopien oder Schnickschnack in Nullkommanichts zusammenklappen und verschwunden sind, sobald der Warnruf erfolgt. Im Zentrum Antifa-Graffitis („Solidarität mit den Flüchtlingen“), außerhalb der venezianischen Stadtmauer dagegen Graffitis mit Neonazi-Symbolen Kreis und Kreuz („F14 Nationalists“, „Gate 4 Nationalists“) – das macht deutlich, wo insbesondere in diesen Krisentagen auch auf Kreta die Fronten verlaufen.
Der von Venedig bis zum 17. Jahrhundert angelegte umfangreiche Hafen muss als Handelsstützpunkt für den gesamten Ostmittelmeerraum imposant gewesen sein. Schon die wenigen gebliebenen Reste – 10 Meter hohe, zum Hafenbecken hin offene Gewölberöhren der einstigen Werften – machen Eindruck von Seefahrerei im industriellen Stil und werden restauriert. Eine einzige Touristin bleibt stehen, um den einzigen, etwa 250 Wörter langen, provisorisch in Form eines großen und didaktisch wertvoll bebilderten, vor der Baustelle aufgestellten Versuch einer Erläuterung des gewaltigen Bauwerks – oder besser: seiner Reste – zu lesen; aber ihr Begleiter drängt sie mit „Komm, komm, komm!“ zum Weitergehen.
Das berühmte Archäologische Museum mit den minoischen „Fresken“ ist ebenfalls Baustelle und bis auf zwei Räume geschlossen, dafür gratis! Eine temporäre Ausstellung zu einem im Licht des aktuellen griechischen Bruttosozialprodukts äußerst fairen Eintrittspreis zeigt während dieser Zeit die Highlights in allernotgedrungenster Präsentationstechnik. Einige Vitrinen sind schon wieder leer, wenn die Exponate in die neu gestalteten Ausstellungsräume ins Stockwerk darüber zurückgezogen sind.
Anhand dieser sowieso schon extrem wenigen Fundstücke kann ein Kommentar nur lächerlich ungerecht ausfallen: die minoische Kultur, auch die sehr frühe, kommt ungemein sympathisch daher und ist bar allem, was uns als Wiege Europas bisher vorgestellt wurde: im Gegensatz zur hellenischen Epoche schmücken keine stereotypen Helden- oder Götterdarstellungen, sondern verspielte maritime Muster die Ton- oder Metallgefäße, mal Tintenfische oder Kraken, mal ein phlegmatischer Hund als Dosengriff. Später dann Darstellungen von lächelnden Göttinnen oder Priesterinnen mit dennoch einer Ahnung von Erhabenheit, Bilder von wütenden Stieren und sprungbereiten Raubkatzen, jedenfalls stets leidenschaftlichen Tiere in wunderbaren Ausfertigungen auf Fresken oder Gefäßen, dazu freundlich wirkende, zum Teil barbusige Hoheiten oder Ehrwürden oder beides, überhaupt viele Frauen an der Spitze einer Gesellschaft, die ihren manifesten oder transzendenten Obrigkeiten irgendwie auf Augenhöhe begegnet sein muss. In der minoischen Hochzeit während der Einfuhr von Edelmetallen findet sich wunderschöner Schmuck, der aber nie opulent oder dekadent daherkommt, sondern immer fein, mit Maß und – ja – Liebe zum Ding. Noch später – aber immer noch vor der Antike – dann Auftauchen von Waffen erst mit den Mykenern, dann die deutlich imperiale und irgendwie industriell und stereotyp (immer noch eben klassisch) wirkende attische Epoche, die Römer dann endgültig dekadent, ein frühes Rokkoko im Vergleich zu den da schon 2000 Jahre älteren, unschuldig daherkommenden minoischen Arbeiten. Minos menschlich, Hellas geometrisch, Rom abstoßend.
Letzter Tag
Knossos. Der Tipp des Rezeptionisten, heute wenn schon, dann sehr früh nach Knossos zu fahren, hat sich eindeutig bewährt. Der Linienbus bringt mich problemlos für zwei Euro die kurze Strecke aus der Stadt hinaus, die zur Hochzeit von Knossos lediglich ein kleiner Hafen war. Ich komme als Erster (scheint mir) um 8:30 Uhr an, als der jungen Frau am Einlass der Pfau noch aus der Hand frisst.
Knossos ist zuerst ein großes, wiederum auf einem kleinen Hügel freigelegtes Ruinenfeld, aus dem allerdings auch höhere Gebäudeteile aufragen und Wege und kleine Brücken für die Besuchermengen angelegt sind. Die Hinweistafeln erzählen viel darüber, wie Arthur Evans ab 1894 (ab 1900 im großen Stil) diese Stätte ausgegraben ließ, wie er dabei die Funde sofort interpretiert und die jeweiligen Räume und Orte benannt hat, pragmatisch nach der Fundsituation („Haus der Felsen“ nach den herabgestürzten Brocken) oder wichtigen Funden („Saal des Lilienprinzen“), aber leider auch nach angenommenen Funktionen („Schule“). Die Schilder versuchen zu vermitteln, dass man Evans zwar viel schulde, dass es aber andere Interpretationen gebe, die oft in den mittlerweile über einhundert Jahren durch Funde oder Vergleiche mit Funden an anderen Orten oder überhaupt durch anderweitiges Wissen erhärtet wurden. „Teile der Ruinen ließ Evans später zu Gebäuden ‚rekonstruieren’ (also durch Anfügungen in die Gestalt bringen, die er für die „ursprüngliche“ hielt), was schon damals viel Kritik hervorrief und aus heutiger Sicht für Archäologen undenkbar wäre.“ (dt. Wikipedia, „Arthur Evans“; der englische Eintrag ist wesentlich länger und erläutert auch Evans‘ ehrenvolle politische Aktivitäten). Einige Fotografien der eigentlichen Ausgrabungen machen klar, wie herbeigebastelt diese Bauten sind, die man hier heute begehen kann. Ungeachtet dessen hat Arthur John Evans eine ungeheure Entdeckung gemacht. Wie kam der Mann auf Kreta (damals noch Chandia) und auf diesen Ort? Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erschien eine Theorie zu einer bronzezeitlichen Hochkultur, und als Evans im Verlauf mehrerer Jahre unter Sammlerstücken antike Siegelringe sah und/oder kaufte, deren Herkunft ihm mit Kreta angegeben wurde, wurde er – man kann es sagen – Feuer und Flamme für die Idee, ähnliche archäologische Erfolge landen zu können wie jüngst Schliemann mit Troja.
Erwähnt werden soll auch, dass schon 1886 der Barmer Wilhelm Dörpfeld versuchte, von den türkischen Behörden die Erlaubnis für Ausgrabungen zu erhalten. Die wollten sich aber die Lizenz so teuer bezahlen lassen, dass Dörpfeld von dem Plan Abstand zu nehmen gezwungen war. Evans profitierte dann von der erzwungenen Autonomisierung Kretas durch eine Allianz aus F, RU und GB von den Türken, die sich die Insel nach […] den Römern (300 Jahre), Byzanz (fast 1000 Jahre, (davon 120 als Emirat muslimischer Piraten (dt. Wikipedia)), Venedig (400 Jahre) fast 250 Jahre lang unter den Nagel reißen konnten. Inwiefern AJ Evans bei seiner Arbeit von Dörpfelds archäologischer Systematik in Hinsicht der Kartografierung der Funde und Differenzierung der Grabschichten, die D. gerade erst in Troja entwickelt hatte, profitieren konnte, ergibt sich aus dem mir vorliegenden Material nicht.
Bezeichnend ist, wie sehr Evans einer raschen Interpretation der Funde anhing. Welche Weltanschauung stand hinter seiner Obsession, die Stätte wäre religiosoiden Charakters und ein Heiligtum irgendeiner Art? Die sehr umfangreichen, direkt im Palast gelegenen Magazine/Lagerhäuser, die möglicherweise die Labyrinthmythos begründet haben (wobei dieser sich auch aus dem Wort „Labrys“ für das Symbol der Doppelaxt herleitet) stellen die Pallastidee in Frage. Aber eine insgesamt und rein kultische Deutung lässt sich so wohl heute nicht mehr belegen. Nach einem deutlich mehr materialistisch und säkular orientierten Jahrhundert und in Zeiten, in denen die Politik noch den letzten Rest von Transzendenz aus dem Portemonnaie kratzt, würde man wohl viel stärker auf ökonomische Interpretationen setzen. Die jahrelange Beschäftigung mit ein und demselben Gegenstand und einem Grabungsfeld von vielleicht einem Viertel Quadratkilometer muss Evans vielleicht auch ein wenig isoliert haben von anderen Sichtweisen und Einflüssen. So dachte er sich die minoische Kultur als quasi aus sich selbst heraus entstanden, während man heute davon ausgeht, dass matriarchalisch strukturierte Kulturen aus Kleinasien die minoische begründet haben.
Ich stelle mir vor, wie Evans jahrelang abwesend ist von seinem englischen Zuhause und seiner Frau; wie er im Verlauf seiner Ausgrabungen immer weiter in seine eigenen Vorstellungen dessen eintaucht, was er hier ausgräbt und was hier mutmaßlich mal gestanden hat. In einem frühen Traum begegnet ihm eine Priesterin und der angenommene König von Knossos, die führen ihn als Ehrengast wie Staatsbesuch durch die prunkvollen und weitläufigen Hallen über Treppen und durch Säulengänge. Jahre später, in einem anderen Traum, ist er selbst König von Knossos geworden, und die Lustrationsbecken, deren Zweck er nicht (und niemand bis heute) entschlüsseln konnte, die Stierspiele und Menschenopfer – all das dient Kultzwecken zu Ehren King Arthur Evans‘, Hochkönig des Vereinigten Königreiches von Kreta.
Im Verhältnis zu ihrem Alter liegt der Ausgrabungszeitpunkt der Ruinen noch nicht lange zurück. Als König George V. Evans 1911 (da war er 60) zum Ritter schlägt, erreicht Amundsen den Südpol, Clara Zetkin begeht zum ersten Mal den Internationalen Frauentag, Franz Marc malt ein blaues Pferd, die Mona Lisa wird aus dem Louvre gestohlen, Frau Caroline Catharina Honecker ist mit ihrem vierten Kind noch nichtmal schwanger, die Titanic ist in Irland noch im Bau, aber meine Großmutter – ebenfalls Barmerin – ist schon fünf.
Die unsichtbaren Pfauen machen Geräusche, die ich lange für Handygeräusche halte und den Vögeln erst später zuordnen kann, als mein Gerät keine eingegangenen Nachrichten zeigt. Um halb zehn verstellt mir zum ersten Mal eine große polnische Reisegruppe den Zugang zum von Evans so genannten Thronsaal. Um zehn muss ich gehen, es wird zu voll.
Im Bus fallen mir jetzt erst die grünen Aufkleber auf: „Notausstieg – Im Notfall Scheibe einschlagen“. Das etwas abgerockte Fahrzeug kommt aus Deutschland, die blaue Farbe lässt mich auf Hamburg tippen. Wieder im billigen Hotel, höre ich selbst durch die geschlossene Zimmertür die leidenschaftlichen Schreie einer jungen Frau beim Sex zwei Zimmer weiter.
Die Bushaltestelle zum Flughafen soll gleich oben an der Straße sein, aber ich kann sie trotz mehrmaligen Fragens nicht finden. Ich laufe mit dem Koffer die heiße Straße entlang, wie immer ohne Gehweg, und frage auf Englisch noch einmal jemanden, der an einer Mauer lehnt und eine große Kreuzung beobachtet. Er versteht mich offenbar nicht. Schon habe ich mich wieder weggedreht, als er nochmal fragt „Airport?“. „Yes“, sage ich. Er weist wortlos auf die Stelle, wo ich stehe, eine Straßenecke. „Here?“ frage ich. „Ne“, sagt er (griechisch für ja). Dann wendet er sich wieder der Kreuzung zu und würdigt mich keines weiteren Blickes. Ich sehe keines der ohnehin fast unsichtbaren kleinen, blauen Haltestellenschilder und bin schon bereit, das nächste Taxi anzuhalten, aber alle sind besetzt. Da biegt der Bus um die Ecke, groß AIRPORT vorne drauf, ein Mann springt von einem Stuhl an einem Laden auf und winkt dem Fahrer, der ranfährt. Ich steige schnell mit ein. Ob dort wirklich eine Haltestelle war, oder welcher Regelung zufolge der Bus angehalten hat, werde ich nie erfahren.
Am Flughafen wird gerade ein Taxifahrer von der Polizei kontrolliert. Noch eine letzte Bekanntschaft: Kiki[6] sagt, sie sei „in between jobs“, einer dieser Business-Euphemismen für arbeitslos. Nach einer Umstrukturierung konnte sie sich in ihrer Stelle in der Unternehmenskommunikation einer Bank in Athen nicht mehr halten, da sie über die geforderten Französischkenntnisse nicht verfügte. Ihr war es sowieso zuwider, sagt sie, diese ständige Schönfärberei, Goldworte zu finden für nicht hinnehmbare Vorgänge, sie müsse mal weg von Banken. Ihre Bewerbungsgespräche bei anderen Firmen seien vielversprechend verlaufen, man werde sehen. Während ihr Mann irgendwo in Kanada Urlaub macht, sei sie auf dem Weg zu einer befreundeten Archäologin – Zeit für sich wäre auch mal gut. Die Freundin helfe bei Ausgrabungen in Gourniá, ob ich das kenne.
Als wir nach Berlin einfliegen, hängt ein Sommergewitter über Schönefeld. Blitze zucken, der Himmel ist schwärzer als die Nacht.
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