Autoren anderswo: Belgien (Dévillé)
Worüber schreiben Theaterautor*innen in anderen Weltteilen?
Erschienen am 05.08.2015 auf EURODRAM
HITLER IST TOT (HITLER IS DOOD)
von Stijn Devillé
Übersetzt aus dem Niederländischen von Uwe Dethier.
Das Stück HITLER IST TOT von Devillé beschreibt die Situation beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/1946 in Nürnberg. Diese Situation ist für den Autor und historisch vor allem durch das titelgebende Faktum bezeichnet, dass die auratische Ära des „Führers“ nach dessen Selbsttötung vorüber ist. Auch seine beiden wichtigsten Stellvertreter Goebbels und Himmler haben sich „van het leven beroofd“, also ebenfalls das Leben genommen, wie es auf der Internetseite des Autors heißt. Die große Personage des Stücks besteht aus der in Nürnberg inhaftierten verbliebenen Führungsriege der Partei und den Anklägern, Richtern sowie einer Journalistin.
Das Stück zeichnet sich zuerst durch seine gewichtige Thematik aus, die sich komplett auf die Figuren konzentriert. Die Dialoge sind knapp, dynamisch, die Atmosphäre ist dicht. Erwähnt werden sollte noch die Notation. Schon in seinem ersten Stück HABGIER (HEBZUCHT, übersetzt aus dem Flämischen von Uwe Dethier), das eine Familie im Investitionsgeschäft während der Finanzkrise beschreibt, notiert Devillé die Figurennamen in Tabellenform am Seitenanfang und deren Dialoge kaskadenhaft darunter.
Das Stück ist dokumentarisch mindestens insofern, als dass die Figuren teilweise historisch sind. Die Figuren der Ankläger und Presse sind fiktiv. Einerseits ist das schriftliche, dokumentarische Format aktuell wenig en vogue, was diese Arbeit als Ausnahme interessant macht, andererseits ist bisher offenbar und erstaunlicherweise kein Theaterstück über diese spezielle Situation nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen.
Abgesehen von den ohnehin interessanten historischen Personen und ihrem Gebaren im Zusammenhang mit den Prozessen, das schon damals alle Anzeichen einer Theaterinszenierung an den Tag legte, zeigen auch und vor allem die Szenen mit den scheinbar rasch zusammenrekrutierten Ankläger und Richter, wie unsicher ihre Position gegenüber Schwergewichten wie Göring oder Streicher waren. Zwar basierte die Einrichtung des Internationalen Militärgerichtshofes auf Beschlüssen der Vereinten Nationen und stellte eine Fortsetzung und Weiterentwicklung des Völkerrechts dar. Zum ersten Mal aber wurden die Vertreter eines zum Zeitpunkt ihrer Taten souveränen Staates für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen, was dann in den Argumentationen auch Probleme auslöste und die Position der Angeklagten stärkte.
Lieber Stijn Devillé, welches war der Anlass für dieses historische Stück?
In vielen meiner Stücke stellt sich Fragen der Moral: was ist richtig, was ist falsch? 2002 habe ich ein Stück geschrieben, das sich mit dem Leben meines Onkels beschäftigt. Im zweiten Weltkrieg war er ein Held des Widerstands, war aber später, in den 50er Jahren, an einem antikommunistischen Sonderkommando beteiligt, das den belgischen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei umgebracht hat.
So wurde aus dem Kriegsheld ein ordinärer Killer. Als das in den späten Neunzigern herauskam, war ich schockiert. (Erst 2007, wenige Monate vor seinem Tod, hat mein Onkel die Tötung des Parteiführers zugegeben.) Mir kam es so vor, als gäbe es so etwas wie richtig und falsch gar nicht: es liegen immer dicke Grauzonen dazwischen.
Die Nürnberger Prozesse erschienen wie die Mutter aller Fälle, in denen diese ewige Frage zwischen Richtig und Falsch angegangen wurde. Allen war klar, dass der NS-Staat falsch war, aber hieß das automatisch, dass die Alliierten die ganze Zeit Recht hatten? Und was könnten die Konsequenzen für kommende Generationen sein? Als Kind hatte ich immer das Gefühl, „auf der richtigen Seite“ geboren zu sein. Aber mit welchem Recht konnte ich das behaupten? Im Gegenteil wurde ich durch mein Geburtsjahr 1974 zu einem Teil der Menschheit, der für einen Holocaust verantwortlich war: die Menschheit hatte keine Möglichkeit, diesen Fleck aus ihrer Geschichte zu tilgen. Als wären wir alle von dieser „Erbsünde” berührt. Deswegen sagt Edith Berger in der letzten Szene des Stücks: „Wir haben den Krieg nicht gewonnen. Wir haben ihn verloren.” Diese Sichtweise machte diesen historischen Fall für mich sehr relevant, naheliegend und modern.
Welche Quellen haben Sie benutzt?
Im Vorfeld hatte ich ungefähr fünf Jahre lang recherchiert (während ich andere Projekte geschrieben und inszeniert habe) und ein weiteres Jahr Vollzeit. Die Hauptquelle waren die Originalprotokolle der Verhandlungen in Nürnberg: sie umfassen 47 Bücher. Diese Abschriften wurden mit dem Avalon Project der Yale University im Internet öffentlich zugänglich gemacht. Andere wichtige Quellen waren: INTERROGATIONS: THE NAZI ELITE IN ALLIED HANDS, 1945 (2001) (VERHÖRE: DIE NS-ELITE IN DEN HÄNDEN DER ALLIIERTEN 1945, Ullstein Taschenbuch 2005) von Richard Overy, THE NUREMBERG INTERVIEWS: CONVERSATIONS WITH THE DEFENDANTS AND WITNESSES von Leon Goldensohn & Robert Gellately und das NUREMBERG DIARY (NÜRNBERGER TAGEBUCH, dt. von Margaret Carroux, Karin Krauskopf und Lis Leonard, FISCHER Taschenbuch 1977) von Gustave M. Gilbert. Sowohl Goldensohn als auch Gilbert schildern die Prozesse hinter den Kulissen, aber Gilbert ist sehr voreingenommen, während Goldensohn (in der Ausgabe des Historikers Prof. Dr. Gellately) präziser ist. Die Szenen mit Albert Speer sind angelehnt an die Arbeiten von Joachim Fest. Außerdem gab es Arbeiten von Steffen Radlmaier, Bradley F. Smith, Norbert Ehrenfreund, Hannah Arendt, Viktor Klemperer, Ian Kershaw, Geert Mak, Jörg Friedrich, Martha Gellhorn, Gitta Sereny…
Während die deutschen Angeklagten historisch sind, scheinen die Amerikaner und Engländer im Stück fiktiv zu sein. Wieso?
Alle vier Figuren (Robert Jackson, Dodd West, Rebecca Goldensohn und Edith Berger) sind entfernt angelehnt an historische Personen. Aber da diese der Öffentlichkeit wenig bekannt waren (Thomas Dodd? Airey Neave?), konnte ich sie anderes gestalten:
Ich wollte unterscheiden zwischen den Angeklagten einerseits, die nur über ihre Vergangenheit nachdenken und streiten konnten (vor ihnen lag nur der Tod), und andererseits den Anklägern, die sich auch mit der Zukunft zu befassen hatten. Um also das Stück für heute relevant zu machen, kam ich darauf, dass es spannend wäre, diese Figuren sehr jung zu machen. Ungefähr in meinem Alter. Historisch war das nicht ganz zutreffend: Robert Jackson z. B. war in Nürnberg über 50, in unserer Fassung wurde er aber von einem Schauspieler Ende Zwanzig gespielt. Wie gehen junge Leute mit diesem Problem um, ein ganzes Leben, die ganze Zukunft noch vor sich zu haben?
Gleichzeitig gewann ich damit mehr künstlerische Freiheit: ich konnte Gewohnheiten und Neigungen beschreiben, die zu der Zeit in Nürnberg herrschten (z. B. freien Sex; oder eine eher verschwenderische und freizügige Atmosphäre hinsichtlich Trinken und Alkohol), ohne genau darauf achten zu müssen, ob dieser oder jener historische Ankläger an solchen freizügigen Abenden in der Hotellobby teilgenommen hätte…
Die Figur von Edith Berger basiert auf mehreren historischen Frauen, die beim Prozess zugegen waren, z. B. Martha Gellhorn, Rebecca West, Elsa Triolet und Hannah Arendt. Rebecca West hatte zum Beispiel im Prozessverlauf eine Affäre mit dem amerikanischen Richter Francis Biddle, daher auch die Liaison zwischen Dodd West und Edith Berger im Stück.
Übrigens ist zum Thema der Simultanverdolmetschung bei diesem Ereignis ein interessantes Buch erschienen: SIMULTANDOLMETSCHEN IN ERSTBEWÄHRUNG: DER NÜRNBERGER PROZESS 1945 (Schippel/Kalverkämper, Frank & Timme, ISBN 978-3865961617).
Uwe Dethier ist Übersetzer aus dem Englischen, Niederländischen, Flämischen und auch aus dem Berndeutschen. Er hat zahlreiche Stücke von Autoren wie Roel Adam, Ignace Cornelissen, Guy Krneta und Charles Way übersetzt, viele davon für junges Publikum. Die von ihm übersetzten Stücke von Stijn Devillé werden bisher nicht von deutschsprachigen Verlagen vertreten.
Der flämische Autor Stijn Devillé verzeichnet auf seiner Website www.stijndeville.be 10 Theaterstücke, von denen die hier erwähnten zwei ins Deutsche übersetzt sind. Er ist außerdem Theatermacher. Nach Braakland/ZheBilding in Leuven, Belgien, ist er seit kurzem Künstlerischer Leiter eines neuen Hauses: Het Nieuwstedelijk.
Würden Sie uns kurz etwas über diese neue Spielstätte sagen, Herr Stijn?
Het nieuwstedelijk ist das neue Stadttheater von Leuven, Hasselt & Genk. Es ist hervorgegangen aus einer Zusammenlegung von Braakland (meiner Truppe, die 2010 zum Stadttheater von Leuven gekürt wurde) und de Queeste (dem kleinen Stadttheater von Hasselt). Wir haben uns zum Ziel gesetzt, neue Stücke zu produzieren, die Fragen zu Leben und Gesellschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert stellen: was passiert in unseren Städten, in dieser Welt und welche Auswirkungen hat das auf unseren Alltag? Aktuell arbeite ich an einer Trilogie zur Bankenkrise und der daraus folgenden Eurokrise, HEBZUCHT, ANGST & HOOP.
HEBZUCHT (HABGIER, ebenfalls von Uwe Dethier übersetzt) hatte 2012 Premiere, ANGST 2014, und HOOP (HOFFNUNG) kommt am 3. Dezember 2015 heraus. Die ganze Trilogie wird im Frühjahr 2016 am Stück gezeigt.
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