Armut V: Geruch
Der Mann in der U8 steht im Gedränge, um ihn ein freier Raum, ein Geruch, der sich gewaschen hat, hält alle auf Armeslänge fern vom lange Ungewaschenen, Schweiß steht ihm auf der Stirn, die Füße in kaputten Turnschuh-Schlappen, eines der dicken Cordhosenbeine hochgezogen, um einen verbundenen Knöchel und ein unnatürlich dunkel gefärbtes Bein zu enthüllen, das zu kommerzialisieren er sich schon lange nicht mehr zu gut ist. Ein Pappbecher in der Hand, murmelt er kaum hörbar: „…kleine Spende… ohne Krankenversicherung behandeln einen die Ärzte nicht… bisschen was erübrigen… zu Essen…“ Wie im Delirium spricht er wirklich leiser als die Umstehenden, macht es ihnen einfach, ihn nicht zu bemerken. Dennoch sind auf magische Weise die Schlüsselwörter seiner Klage den überkonditionierten Ohren der Metropolenbewohner unmissverständlich und lösen den hilflosen Abwehrreflex aus: seh ich ihn nicht, sieht er mich nicht. Auf der Ringbahn zwischen Frankfurter Allee und Greifswalder Straße lösen sich die Bettler ja ganz nach Dreigroschenmanier ab, und ähnlich dem Tourismus, der z. B. in Mitte oder Prenzlauer Berg genau jene Phänomene vernichtet, die ihn ausgelöst haben: Originalität, günstige Preise, heimelige, individualistische Freiheit, vernichtet das Überangebot an Betteldiensten die Bereitschaft, dafür zu zahlen bzw. sich für ein Almosen erweichen zu lassen. Schon spricht man über seine speziellen, fortgeschrittenen Methoden, um sich dennoch barmherzig zu zeigen: ich gebe nur Frauen, ich gebe jedem Dritten, ich gebe nur dienstags und freitags. Ich will auch etwas anders machen und schaue dem Murmelmurmelmann ins Gesicht. Er, geprügelter Hund, krank, elend, blickt zurück, zu kraftlos, sich abzuwenden, zu kraftlos aber auch, sein Anliegen angesichts des aufmerksamen Publikums zu wiederholen; und ist es denn auch notwendig? Herrmannplatz steigt er aus.
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