100 Jahre, die die Welt erschütterten
Reihe des Theaters der Generationen (Театр Поколений) zum 100-jährigen der Oktoberrevolution in St. Petersburg, 06.-16.11.2017
Eines der global maßgeblichsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts, die Oktoberrevolution 1917 in Russland, wird in der Russischen Föderation, dem Folgestaat der aus ihr hervorgegangenen Sowjetunion, nicht offiziell behandelt. Das hängt mit dem bewusst vage und distanziert gehaltenen Geschichtsverständnis Russlands zusammen, das sich so formulieren lässt: Russland hatte in seiner Geschichte glanzvolle und weniger ruhmreiche Perioden, jedoch war es immer ein mächtiger Staat, der das Weltgeschehen bestimmte. Die differenzierte Beschäftigung mit einem Ereignis wie der russischen Oktoberrevolution, die eine scharfe Schnittstelle zweier solcher unterschiedlicher Perioden darstellt, würde das Land zu einer kritischen Selbstbetrachtung nötigen, die notwendigerweise unerwünschte Folgen hätte für die aktuelle Politik. Daher meidet man von offizieller Seite das problematische Thema.
Das St. Petersburger Theater der Generationen (Театр Поколений) arbeitet seit Jahren an einem differenzierten Ansatz politischer Zusammenhänge. Auch deswegen war für das Theater eine Koproduktion mit dem Berliner Verein Drama Panorama: Forum für Übersetzung und Theater e. V. interessant. Das dabei entstandene Stück 67/871-LENINGRADER BLOCKADE wurde gefördert von der Hamburger Stiftung „Erinnerung-Verantwortung-Zukunft“ und im September 2017 im Theater unterm Dach in Berlin uraufgeführt. Die Blockade der Stadt Leningrad (heute wieder St. Petersburg) durch die Wehrmacht über 871 Tage forderte mehr als eine Millionen Hungeropfer. In Deutschland ist dieses Kriegsverbrechen wenig bekannt, während Leningrad die „Stadt der Helden“ genannt wurde, ein Titel, der bei der Umbenennung genauso erhalten blieb wie das hochpathetische, monumentale Mahnmal zum Gedenken an die „Helden“ der Stadt, denen Stalin keine Wahl ließ, als zu verhungern, um sie dann zu Helden zu überhöhen. Hier vergessen, dort idealisiert – diese Differenz interessiert die Theatermacher dieser Produktion aus beiden Ländern.
Auch das Revolutionsjubiläum bietet dem Theater der Generationen wieder Anreiz zu theatraler (Re-)Aktion. John Reeds berühmtes Buch TEN DAYS THAT SHOOK THE WORLD stiftet den Titel СТО ЛЕТ, КОТОРЫЕ ПОТРЯСЛИ МИР (HUNDERT JAHRE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN). Vom historischen 06. bis zum 15. November 2017 arbeitet das Ensemble in wechselnder Besetzung unter Leitung von „Kommissar*innen“ nach einem vom künstlerischen Leiter Danila Korogodsky bildnerisch gesetzten Thema und zeigt am Abend jeweils ein öffentliches Ergebnis. Das Theater, von Thomas Irmer in Theater der Zeit als „eines der wichtigsten freien Theater Russlands“ bezeichnet, hat es sich zur fruchtbaren Gewohnheit gemacht, regelmäßig mit internationalen Gästen zusammenzuarbeiten. In dieser Reihe sind neben Christopher Barreca, Professor für Bühnenbild am California Institute of the Arts (CalArts), der schon bei mehreren Produktionen beteiligt war, auch Historiker wie der Schweizer Ivo Mijnssen oder der Berliner Grischa Meyer, die internationale Puppenspielerin Yulya Dukhovny, die Petersburger Choreografin Darya Barabanova und der Berliner Autor dieses Artikels eingeladen. Der deutsche Regisseur Eberhard Köhler ist ohnehin dauerhaft in der Leitung des Theaters. Auf der Bühne arbeiten eine Handvoll Puppenspieler*innen und interessierte Schauspieler*innen, erweitert um die jeweils verfügbaren Spieler*innen des Pokoleniy-Ensembles.
Im Theater wird an jedem Morgen der Werkstatttage zunächst die Technik instruiert, wie der Raum auszusehen hat, die Spieler werden meist in mehrere Gruppen aufgeteilt und erhalten unterschiedliche Aufgaben, um die wenigen Stunden bis zum Abend effektiver zu nutzen. Sie entwickeln Material, zeigen ihre Versuche am späten Nachmittag oder frühen Abend den „Kommissar*innen“, Rückmeldung erfolgt von der Leitung aus Dukhovny, Köhler, Barreca und Korogodsky, und abends gibt es eine öffentliche Vorstellung. Nicht zuletzt dank der geschliffenen Improvisationskünste und auch der Mitwirkung der Gruppe von Puppenspielern gelingen sehenswerte, durchaus heterogene Abende.
Dass die Fabriketage in der Lakhtinskaja allabendlich mit ca. 50-60 Zuschauern ausverkauft ist, ist aus mehreren Gründen beachtlich. Zunächst überrascht, dass das Publikum wie auch die Darsteller*innen überwiegend jung, also zwischen 25 und 40 Jahre alt sind – in Deutschland nicht unbedingt die demografische Gruppe, die die Theater füllt. Außerdem gibt es in St. Petersburg um die hundert Theater, aus denen das Publikum wählen kann, und dass die Zuschauer in dieser nasskalten Woche in der Stadt an der Newa-Mündung den Weg überhaupt auf sich nehmen, ist umso erstaunlicher, als dass sie so wenig wie die Mitwirkenden wissen, was sie eigentlich erwartet, denn die Inhalte werden erst am jeweiligen Tag konstruiert und sind oft zehn Minuten vor dem Einlass noch nicht in Stein gemeißelt.
Thematisch orientiert sich die Arbeit im Spannungsfeld von Glorifizierung und Heldenkult, erinnert an das immense Leid der Stalinherrschaft, an verlorene und neue Utopien, an die Frage nach Utopien überhaupt.
Ivo Mijnssen bietet in seinem Vortrag einen geschichtlichen Überblick seit der Oktoberrevolution, erläutert ihre Auswirkungen und Folgen im 20. Jahrhundert, das Bild und die Hoffnung, die die Menschen mit Revolutionen bzw. dem Revolutionsbegriff verbunden haben, und beschreibt die Gegenwart als eine Zeit der konservativen Revolutionen.
In seinem Bildvortrag vergleicht Grischa Meyer die unterschiedliche ikonografische Lesart und Bedeutung des berühmten Bildes „Schwarzes Quadrat“ von Kasimir Malewitsch heute und zur Zeit seiner Entstehung. Er stellt die These auf, dass, anders als heute (und als heute für die Zeit seiner Entstehung angenommen), das „Schwarze Quadrat“ damals sehr wohl ein einfach lesbares Zeichen war, das nicht primär als abstraktes, theoretisches Signum, sondern als eine mit konkreter Bedeutung seiner ikonografischen Provenienz gefüllte Form betrachtet wurde.
In Form von drei Puppen (Suse Wächter) treten die Geschichtsriesen Trotzki, Stalin und Lenin einige Male als Zwerglein auf, was unweigerlich komische, aber auch grausame Effekte hat. Sie erzählen sich Politikerwitze, erklimmen Heldenmahnmale und lassen ihrerseits die Menschenpuppen tanzen. In einer wunderbaren Episode am vorletzten Abend begegnen sich der Gründer des Theaters Zinoviy Korogodsky und V. I. Lenin, beide vom Totenreich heraufbeschworen, in einer urkomischen Debatte über Ideologien, die eine politischer, die andere künstlerischer Natur.
Den beiden Schauspielern Igor Ustinovitsch und Roman Chusin gelingt es, aus Improvisationen zwei Figuren zu kreieren, die sich in Form eines Clownspaars urkomisch durch mehrere der zehn Abende ziehen, um zum Beispiel Lenin seinen Wunsch zu erfüllen und ihn auf dem Moskauer Friedhof zur letzten Ruhe zu betten.
Immer wieder sind Momente mit revolutionärem Bildmaterial zu sehen; kleine Installationen wie ein mit Fleischstückchen besteckter Weihnachtsbaum aus Stacheldraht; Stalin, der Menschlein anstatt Zucker in den Tee stopft; Stop-Motion-Animation mit Propagandamaterial aus der Aufbauzeit für die Zuschauer; ein inszenierter Szenenbogen von Eberhard Köhler mit Choreografien von Darya Barabanova, den Puppen von Wächter, die sich über Versionen des St.-Just-Monologs aus „Dantons Tod“ austauschen, gekontert von Svetlana Smirnova mit dem Todesmonolog von Julie; zwei beeindruckende Teenager aus der Bewegung um den Politiker Alexej Nawalny sind zu Gast und beantworten sieben Fragen zu gesellschaftlichem Wandel, woraufhin sie dem Publikum ebenfalls zehn Ja/Nein-Fragen stellen wie: Sind alle russischen Beamten Diebe? oder: Ist der Staat verantwortlich für dein persönliches Wohlergehen?; ein Tag mit John Cages theater piece namens SOLO 6 aus seinen Song Books, der sowohl für das Ensemble inspirierend ist als auch für das St. Petersburger Publikum etwas Neues darstellt; ein Artikel des in der Schweiz lebenden Schriftstellers Michael Schischkin wird verlesen.
Wie aus einem Füllhorn ergießen sich zehn Tage lang scheinbar ohne Unterlass Figuren, Szenen, szenische Bilder, Tänze, bekannte, aber entfremdete Objekte, Kontexte, Perspektiven über das gebannte und faszinierte Publikum, als könnte es unentwegt so weitergehen. Die Fragestellungen, die gerade die Petersburger auf ihren täglichen Wegen über die Originalschauplätze bewegen, werden in Gesprächen, Vorträgen, Filmen, Montagen, persönlichen Erzählungen, rasenden oder eindringlich langsamen Szenen und Vorgängen, Posen und Tänzen aufgenommen, verwandelt, herumgereicht, verworfen und neu gefasst. Die gefundenen Formate sind leicht oder intellektuell anspruchsvoll, bildlich oder emotional eindrücklich, jedenfalls aber ungeheuer vielfältig. Produktivität und Kreativität sowie auch schon die schiere Kraftanstrengung der vielen Mitwirkenden dieser zehn Tage sind angesichts des extrem spontanen Konzepts verblüffend und beeindruckend. Die Teilnehmer von außerhalb haben den Terminblock eingeplant, aber die Ensemblemitglieder schälen sich ihren mehr-als-100-prozentigen Einsatz tageweise und kaum entgeltlich aus dem Arbeits- und Familienalltag; am folgenden Wochenende sind schon wieder Repertoirevorstellungen. Die Reaktionen der Zuschauer zeigen, dass ihnen diese Bedingungen nicht entgehen.
Gebührend abgeschlossen wird der Zyklus von einem Abend namens белое ничто (Weißes Nichts). Das Publikum sitzt vor einem weißen Bühnenraum. Zu Beginn wird am Bühnenrand eine den Raum schließende Wand erbaut, durch welche die Darsteller durch eine Tür verschwinden. Dahinter ist eine Stimme vom Band zu hören. Nach zehn Minuten folgen die Zuschauer dem Ensemble. Im stillen Bühnenraum läuft, senkrecht auf einen Tisch projiziert, das Video eines Interviews eines der Darsteller mit seinem Vater über dessen Vorstellungen gesellschaftlichen Wandels. Im Raum werden anschließend Kissen verteilt, die Zuschauer können Platz nehmen. Das Ensemble stellt zu jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer ein Wachslicht und ein leeres Gläschen, auf das eine halbe Brotscheibe gelegt wird, im nächsten Gang wird etwas Wodka eingegossen. Keine Worte, keine Musik, nur die leisen Schritte auf dem Bühnenboden, das Geräusch der Gläser auf dem Holz, das Plätschern in den Gläsern. Man erhebt sich, trinkt den Wodka und isst das Brot. Ein ideologisch ungebundenes Ritual, dass sich mit seiner konkreten Akustik und dem Schweigen deutlich unter der Pathosgrenze bewegt, also angenehm und berührend sein kann.
Ein Strauß Glühbirnen glimmt in der Mitte auf, das Publikum wird wieder in einen großen Kreis bewegt, eine Darstellerin gibt zwei Hände voll mit roten Drahtstiften vorsichtig in die Hände eines Zuschauers, der in die seiner Nachbarin, und so wandern die Stifte, achtsam übergeben, ringsum. Danila Korogodsky malt in weißer Schrift Worte auf den weißen Boden (es handelt sich, für Eingeweihte, um ein Dutschke-Zitat zur Utopie einer Welt ohne Krieg und Hunger). Ab und an klickt in der Stille des streichenden Pinsels doch ein Nägelchen zu Boden, bis die Hände die Last einmal herumgereicht haben und eine Darstellerin sie in eine Vase unter den Glühbirnen gibt, dazu drei rote Nelken. Das erste Wort des Abends und des gesamten Zyklus’ war auch das letzte: Спасибо – Danke.
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