USA im September IV
In Portland geht es zweifellos vor allem um Bäume und um Brücken. Wo man im immerhin auch als grün bekannten Berlin über eine von einer Baumsorte geprägte Straße froh sein darf, im prächtigsten Fall die Platanen an der Puschkinallee, ist in Portland jede Straße von mühelos zwanzig Baumsorten bestanden, von denen ich Naturignorant gerade noch eine Ahorn- und eine Eichenart erraten kann. Alle Untereschen, Sonderkoniferen, Spezialkastanien und amerikanischen Spielarten von irgendwas kann ich nur unkundig bewundern. Dabei geraten viele Exemplare prächtig und ausladend, und gelegentlich biegt man um eine Ecke und steht unvermittelt vor einer irrwitzig großen Douglasie oder sogar einer Sequoia, die Wohnhäuser um ein Vielfaches überragen. Ich erinnere mich an den Besuch im Sequoia-Nationalpark vor zwanzig Jahren, wo ich zwischen den schwindelnd hohen Mammutstämmen herumtapste wie in einem Märchenwald. Auch im Forest Park im Nordwesten Portlands – wohin ich noch am letzten Tag auf einem geborgten, zu kleinen Fahrrad quer durch die Stadt radele – wirken riesige Douglasien und anderen große Bäume wie ein Wald auf Speed oder ich wie Alice nach ihrem Knabbern an der rechten Seite des berühmten Pilzes.
Neben der arboralen Vielfalt präsentiert sich Portland als das, was der Name nahelegt: eine Hafenstadt mit Industriehafen und einigen Motorbootanlegern am Willamette River. Dabei bekomme ich den überaus breiten Columbia River im Norden nicht einmal zu sehen. Ich lasse mir sagen, dass dort in der so genannten Gorge („Schlucht“) die Windkanaleffekte so stark sind, dass hier Surfer zusammenkommen, um auf dem Fluss ihre Künste zu üben. Sehr zu meinem Bedauern liegt die Pazifikküste fast 90 Meilen von Portland entfernt – weiter als gedacht und ohne größeren Planungsaufwand nicht zu erreichen. Das muss auf die Liste für den nächsten Besuch.
Vor der Silhouette der Innenstadt spannen die Brücken ihre Bögen hoch über dem Fluss, und wo sie nicht hoch sind, sind es Zugbrücken. Der mittlere Teil der großen Steel Bridge zum Beispiel lässt sich nach oben fahren, damit große Tanker und Frachtschiffe zu den dahinterliegenden Industrieanlegern passieren können. Die zweistöckige Brücke dient oben Autos und Straßenbahnen, unten Zügen und Fußgängern bzw. Radfahrern, die von der Eastside Esplanade kommen, einem Rad- und Fußweg, der sich am Flussufer unter der röhrenden Autobahn entlangzieht und mit verschiedenen Stegen Gelegenheit zum (Sonnen-) Baden bietet.
Die Stadt mag gerade groß genug für interessantes urbanes Leben sein; was sie aber vor allem auszeichnet, ist ihre Nähe zu wunderbar vielfältiger Natur: Eine Autostunde entfernt ist man bereits am Mount Hood, einem bewaldeten 3000er mit Gletscher, wo es sich herrlich wandern lässt. Der Mount Helens im unmittelbar benachbarten Bundesstaat Washington ist mit 2400 Metern etwas niedriger, aber durchaus nicht der einzige Berg in der durch die Ränder der Pazifik- und der nordamerikanischen Platte topographisch interessanten Region. Die atemberaubend schöne Pazifikküste, die unzähligen Nationalparks und Naturschutzgebiete machen die Gegend zu einem fantastischen Ferien- und Ausflugsgebiet.
Obwohl ich die Woche für Entspannung und Auswertung reserviert hatte, kann ich doch das eine oder andere erkunden. Zum Glück lerne ich Ruth Wikler kennen, die mit viel Engagement und Leidenschaft das Boom Arts Theater leitet. Wie die meisten anderen Künstler ist sie vornehmlich mit Förderanträgen beschäftigt, was sie zunächst nicht von freien Künstlern in Deutschland unterscheidet. Anders als diese allerdings richten sich die Anträge hier in Ermangelung öffentlicher Mittel überwiegend an private Stiftungen. Boom Arts ist aufgrund der internationalen Erfahrung und Ambition von Wikler das einzige Theater in der Stadt und auch an der gesamten Nordwestküste der Vereinigten Staaten, das internationale Künstler und Gruppen einlädt. Im Oktober sind beispielsweise CCA Dakh aus der Ukraine zu Gast, die auch schon in Deutschland zu sehen waren – eine unerhörte Organisationsleistung, die ausnahmsweise mit Unterstützung von Regierungsgeldern zustande kommt.
Das Publikum ist im Allgemeinen einerseits begeistert, meint Wikler, andererseits wünschen sich die Zuschauer ein stärkeres Profil von ihrem Theater, um es besser einordnen zu können. Gerade weil es aber die einzige Institution ist, die überhaupt das internationale Feld bedient, kann sie ihre Arbeit schlecht auf einen Bereich konzentrieren. Die übliche Segmentierung nach Bevölkerungsgruppen (Theater für jüdisches, spanischsprachiges, russischstämmiges Publikum usw.) greift nicht, wenn man eine Palette internationaler Theaterkunst präsentieren möchte, die diese Einschränkungen gerade ausschließt. Dieses Verständnis, beklagt Wikler, ist dem Portlander Publikum offenbar nicht leicht zu vermitteln. Sie hat außerdem wenig Chancen, ein Publikum heranzubilden, wenn die meisten Zuschauer ihre eingeladenen Gastspiele zum ersten Mal besuchen, klagt sie.
Am letzten Abend führt mich meine Gastgeberin Andrea doch noch ins Artists Repertory Theater, ein schönes, großes Theater mitten im Zentrum, das SKELETON CREW von Dominique Morrisseau zeigt. Das Stück ähnelt inhaltich dem kürzlich so erfolgreichen Stück SWEAT von Lynn Nottage, ist aber älter. Das Stück über Arbeiter*innen in einer Autoteilefabrik in Detroit, die von der Schließung und Entlassung bedroht sind, wirkt handwerklich gut geschrieben. Die Inszenierung mit Schattentänzern in den Umbaupausen, Naturalismus und wenig Einfallsreichtum der Regie überzeugt mich umso weniger, als dass mich inzwischen selbst in schlechten Inszenierungen hervorragende Darsteller*innen verwöhnt haben.
Mit ihrem Hinweis auf die sehr kurzen Probenzeiten hatte Andrea mir schon vor einigen Tagen das fehlende Puzzleteilchen geliefert, das das ästhetische Verhaftetsein des amerikanischen Theaters im Naturalismus erklärt. In drei Wochen haben Regisseure einfach keine Gelegenheit, Inszenierungsvisionen zu entwickeln und auszuprobieren. Daher müssen, so die Argumentation, Autoren mit umfangreichen Spielanleitungen in den Stücktexten ihre Vision der Inszenierung erläutern, die dann so auch ausgeführt wird. Ich wäre dennoch interessiert, ob nicht eine erfahrene Regie mit stärkeren eigenen Visionen selbst in so kurzer Zeit mehr aus diesen zum Teil starken Texten herausholen könnte.
Am letzten Tag in den Staaten in New York City kann ich noch eine der letzten Vorstellungen von THE EMPORER sehen, das ich vor zwei Wochen wegen eines anderen Termins verpassen musste. Das Theater for a new audience in Brooklyn zeigt diese Adaption eines Buches von Ryszard Kapuscinski über die Herrschaft des äthiopischen Kaisers Haile Selassie I. durch anonymisierte und wohl literarisierte Berichte von seiner Dienerschaft. Die Schauspielarbeit von Kathryn Hunter und ihrem Kollegen Temesgen Zeleke ist hervorragend, auch Regie und Bühnenbild überzeugen durch ein Gefühl für das richtige Maß. Danach folgt eine Diskussion mit Hrn. Yemane Demissie und Fr. Krystyna Pipinska Illakowicz, die den geschichtlichen Zusammenhang und die Kontroverse um Kapuczinskis Arbeit erhellt. Es geht im Wesentlichen um die Frage, wieso der Autor sich so viele Freiheiten mit seinem explizit „literarischer Journalismus“ genannten Buch herausgenommen hat, wieso er, wenn er eigentlich etwas über die Zustände im sozialistischen Polen erzählen wollte, das auf Kosten einer wahrheitsgetreuen Beschreibung der Zustände in Äthiopien getan hat.
Die verbleibenden Stunden bis zum Abflug verbringe ich, ohne mit jemandem zu sprechen im Café, in der U-Bahn zum Flughafen mit Knausgårds TRÄUMEN und in Schlangen im Flughafen. Ich habe den Eindruck, dass ich direkt aus dem Theater ins Flugzeug steige und dann auch, nach geraubtem Nachtschlaf, schon in Berlin ankomme.
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