Logbuch 1.2: INFINITE JEST
INFINITE JEST S. 132: Nach dem schon entscheidenden, weil den Stil aufreißenden und neue Horizonte ermöglichenden „Kapitel“ über Poor Tony, yrstruly und C, der schrecklich krepieren muss.
Das Monsterbuch jagt mir Angst ein. Ich spüre zuerst Neid, ganz kurz, dann gleichzeitig Freude und Inspiration, dann lange Angst. Ich kenne diese Angst: Versagensangst. Diese äußert sich umwillkürlich in einem zuerst herabsetzenden Kritikansatz á la: „Wallace hat praktisch jedes deutsche Wort der gehobenen Bildungsreferenz („Brockengespenst“ aus Goethe) mit übererfüllender, blinder Umlautliebe angefasst („Bröckengespenst“) oder, wie selbst deutschaffine US-Literaten es gern tun, die ihnen fremde Groß-/Kleinschreibung übersehen („Mein kinder“) – neben anderen grammatikalischen Feinheiten der schönen deutschen Sprache, und damit den bildungshuberischen Witz, mit dem er diesen Autorenspaß gewürzt hat, gleich wieder selbst abgesägt.“ Diesen Ansatz muss ich willentlich und mittels kritischer Beleuchtung um 180° drehen. Das gelingt auch.
Bleibt die Frage, ob Wallace Deutschverfälschung vielleicht Absicht ist. Ohne längere wissenschaftliche Vertiefungen belasse ich es hier bei der Einschätzung: ist es wohl nicht. Dafür spricht, dass er diese inkonsistent verwendet (nicht immer ‚ö‘ anstatt ‚o‘ o. ä.) und ausgerechnet einem Deutschstämmigen in den Mund legt, zusammen mit einiger Theorie über dessen Ergebenheit einem höheren Gemeinwesen gegenüber, mit allen für Deutschland folgenden Implikationen, die Wallace ohne Boshaftigkeit auszuführen versteht.
Wallace folgt sozusagen genau dem entgegengesetzten Pfad von dem, den Beckett verfolgt hat. Hierbei geht es aber nicht wieder um Bildungshuberei – diesmal meine -, sondern um den Diskurs, der hier verfolgt bzw. fortgesetzt wird und in den sich dieses Werk bzw. dieser Autor eingliedert oder gegen den ers sich verhält. Becketts Entscheidung gegen das, was er schon bei Joyce modernistisch und meisterhaft ausgeführt beobachtet und gelernt hat, das offen referenzielle Schreiben, war eben zwar hergeleitet aus der persönlichen Geschichte und lange, ehe der Gedanke einer Theorie der Diskurse gedacht wurde, bedeutete aber doch eine Abwendung von diesem modernistischen Diskurs in dem sehr wachen Bewusstsein, dass es sich auf dem Terrain ausdiskursiert hatte. Insofern stellt sich die Frage, ob Wallace mit diesem Buch neue Wege beschreitet und einen neuen Diskurs eröffnet, die Frage nach dem Neuen in seinem Buch schlechthin. Wallace Bildungshuberei rangiert auf explizit und genüsslich viel niedrigerem Level als – um bei dem Trendsetter jener Generation zu bleiben – James Joyce. Er arbeitet stärker mit Straßenjargon, was nur heißt, dass Literatur der höchsten Klasse das schon lange „darf“, während es bei Joyce noch ein Skandal war. Natürlich geht es im maskulinen Pubertätsroman INFINITE JEST andauernd um Masturbation und all das, während Joyce den Puffbesuch seiner Figuren Daedalus et alteri schön mit Soundprosa verklausulieren musste. Er, Wallace, gestaltet technische Fantastik wie Thomas Pynchon (Aufsatz über Videophonie); er erfindet lustige, sprechende Namen wie Pynchon (eigentlich alle), er erfindet abstruse und absurde Geheimgesellschaften, wiederum wie TP, aber an dem kommt eben auch einfach keiner von dem Format und Interesse vorbei, mal ehrlich. (P.’s Reverenz erfolgte gleich comme-il-faut mit dem Titel seines kurzen Detektivromans: INHERENT VICE.)
Aber welchen Diskurs verfolgt Wallace hier? Im Vorwort von Dave Eggers wird ein bisschen herumgetastet im us-amerikanischen Vergleich, Namen wie Exley oder Pynchon oder Borroughs oder Kerouac fallen, müssen fallen, auch wenn Eggers sie hauptsächlich anführt, um die Rauschhaftigkeit von Wallace’ Schreiben von dem der erwähnten Herren (immer Herren. Hm.) zu unterscheiden – what’s your drug? Ohne hier zu einem Ergebnis zu kommen, mitten auf der Reise: Wallace ist jedenfalls einer, der Trash und durchschnittliches Leben und Medien und Literatur kongenial verbindet, sehr unterhaltsam ist, sofern man sich durchbeißt, und jetzt (endlich) habe ich auch schon einmal herzhaft lachen müssen, als in „Helen“ Steeplys Artikel der Frau mit dem neuartigen, künstlichen, externen Herzen in der Handtasche – aber wer wird denn den Spaß verderben! Soweit diese end-losen Gedanken.
Es ist ein freundliches Monster, das enthüllt spätestens der zweite Blick. Immer wieder aber erinnert es uns daran, dass es – freundlich oder nicht – doch Monsterblut in den Adern hat.
Wir lesen weiter.
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