Logbuch 1.6: INFINITE JEST
Logbuch Infinite Jest S. 443:
Das Buch bewegt sich eher in die Tiefe als in die Breite oder gar in eine Richtung. Wenn man sich fragt, wovon das Buch handelt, wird es schwierig, eine Geschichte zu erzählen. Jemand hat’s versucht:
Vielleicht geben die Figuren genaueren Aufschluss:
Über, Hal Incandenza, die bisherige Hauptfigur, mit der der Roman auch beginnt, ist nach knapp der Hälfte des Buches nichts zu sagen, was einer Entwicklung gleichkäme. Die Zahl seiner inneren Konflikte stapelt sich, je mehr wir über den grotesken familiären Hintergrund erfahren. Hal kifft wie verrückt und bleibt einer der stärksten Tennisspieler seiner Qualifikationsklasse. Der Vater tot nach spektakulärem Selbstmord und einem Leben mit drei Karrieren, deren letzte Kunstfilmemacher war. Die Mutter Lehrerin an der Tennisakademie des Sohnes, die beiden Brüder nicht oder nicht mehr leistungstennisfähig. Ein paar Mitschüler des Teenagers, Pemulis, Troelsch, Struck … ein paar der Lehrkräfte und Trainer. Alles in Enfield, einem kleinen Ort in CT. Die Atmosphäre in dieser Akademie, das Leben der Schüler, ihr Verhältnis zum Leistungssport, ein paar Turnierberichte – das ist die eine erzählerische Säule.
Der andere Schwerpunkt des Buches ist ein Wohnheim für Suchtkranke in Boston MA. Einzelne Figuren (Don Gately, Joelle van Dyne) werden betrachtet, sind aber in ihrer Geschichte auch stagnant, Entwicklung dort: keine. Über die Drogenszene in Boston erfahren wir eine Menge. Ein zutiefst depressives, aber von einer irgendwie inneren Schönheit beseeltes Mädchen hat eine Uniradiosendung und ist (früher? Später?) Patientin in dem Wohnheim.
Ein Paar Spione taucht auf, Rémy Marathe und Hugh Steeply, pynchoneske Gestalten, ganz und gar außerhalb jeglichen Realismus’. Sie werfen sich im Wesentlichen Positionen im Separatismuskrieg des Québecer Untergrunds an die Köpfe, bleiben ansonsten aber so merkwürdig, wie sie sind, der eine im Rollstuhl, der andere nicht sonderlich kunstfertig als Frau verkleidet. Beide bewaffnet in gegenseitigem Misstrauen, gleichzeitig alte Bekannte, die sich intime Geheimnisse verraten.
Diese (Zwischen-) Zusammenfassung gleich ich ab mit einer anderen, die ich auf Ask.com gefunden habe:
Wallace thematisiert im Buch unter anderem Drogenabhängigkeit, Hedonismus, Depressionen, Kindesmissbrauch, Materialismus, die Unterhaltungsindustrie, den Unabhängigkeitskampf von Québec und Tennis.
In einer nicht allzu fernen Zukunft haben sich die Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko zur O.N.A.N. vereint, der Organisation Nordamerikanischer Nationen. Das frühere US-kanadische Grenzgebiet wurde evakuiert und in eine riesige Müllkippe verwandelt. Die durch den Gebietsverlust entstandenen Steuerausfälle werden kompensiert, indem an zahlungskräftige Firmen das Recht verkauft wird, die Jahre nach ihren Produkten zu benennen (so tragen beispielsweise die meisten Kapitel des Romans die chronologische Überschrift Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche). Einige frankokanadische Separatistengruppen haben ihre Operationen auf ehemaliges US-Gebiet ausgedehnt, insbesondere die rollstuhlfahrenden „Assassins des Fauteuils Roulants“ (A.F.R.). Als Waffe würden sie gerne eine Videokassette einsetzen, den Film Unendlicher Spaß, das letzte Werk des Regisseurs James O. Incandenza. Jeder, der diesen Film sieht, wird innerhalb von wenigen Minuten unwiderruflich in den Geisteszustand eines Kleinkinds zurückversetzt und will nichts anderes mehr, als wieder und wieder diesen Film anschauen – für die A.F.R.-Aktivisten ideologisch die passende Waffe, weil die Amerikaner so Opfer ihrer unersättlichen Gier nach Unterhaltung würden. Die A.F.R. sucht daher nach der kopierbaren Master-Kassette von Unendlicher Spaß – genauso wie der Geheimdienst, der die Verbreitung des Films verhindern möchte.
Diese Suche verbindet unterschiedliche Handlungsstränge und Figurengruppen miteinander und fokussiert den Handlungsort auf die Enfield-Tennisakademie, die von James O. Incandenza gegründet wurde und wo sich während des Handlungszeitraums des Romans seine beiden jüngeren Söhne Mario und Hal aufhalten. Neben dem aufstrebenden und drogensüchtigen Tennistalent Hal Incandenza und dem A.F.R.-Aktivisten Remy Marathe gehört der hünenhafte Don Gately zu den Hauptfiguren des Romans. Gately, ein Ex-Dieb und Mörder, lebt in einem Drogenentzugsheim unterhalb der Enfield-Tennisakademie und ist zu einem vehementen Anhänger der Anonymen Alkoholiker geworden. Mit der Suche nach Unendlicher Spaß verbindet ihn eine Beziehung zu Joelle van Dyne, die im Laufe des Romans nach einem Suizidversuch in das Heim einzieht; sie ist die Hauptdarstellerin von Unendlicher Spaß, kennt den Inhalt des Films allerdings nicht, da sie ihn nie gesehen hat.
Ich stelle fest, dass ich die Hauptstränge so nicht zusammengebracht habe, aber vielleicht auch nur, weil bis Seite 400 noch zuwenig zusammen gebracht worden ist, außer den politischen Entwicklungen. Auch der Film ist schon eingeführt, erst in der Filmografie von Vater Incandenza, dann über die Vita von Joelle. Der eigentliche Filmtitel erscheint zuerst als Abwandlung bei der Charakterisierung des toten Vaters („infinite jestor“), dann – wie könnte es anders sein – in der umfänglichen Fußnote zur Filmografie des Vaters. Aber dass es überhaupt um diesen Film als „Geheimwaffe“ geht, das konnte ich bisher nur ahnen, denn im aktuellen Gespräch zwischen den Spionen Marathe und Steeply wurde das erwähnt. Wallace hält mit den entscheidenden Informationen also unendlich lange hinterm Berg.
Nicht zu übersehen ist natürlich die dramaturgische Parallele zu Pynchons GRAVITY’S RAINBOW (DIE ENDEN DER PARABEL), in dem ebenfalls von verschiedenen Seiten, ebenfalls u. a. von ultrageheimen Geheimorganisationen, nach einem obskuren, mysteriösen Gegenstand gesucht wird (dem „Schwarzgerät“).
Jeffrey Eugenides in einem schönen Interview der FAZ 2009 (in Berlin) über seine Leseerfahrung des Buches. Er bezeichnet die Struktur des Buches als Kreisstruktur, ich würde eher sagen, es ist ein Strudel, dessen Kern man immer näher kommt, dessen Randelemente alle nach innen weisen, während sie bei der linearen Leseerfahrung immer wieder am Leser vorbeiziehen.
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