Ungeahnte Klippen – Kulturtransfer in der theatralen Praxis
Interkulturalität als Inhalt und Produktionsbedingung in Theaterproduktionen
von Henning Bochert
12. April 2014, FAU Erlangen
Was ist das, Interkulturalität?
Was meinen wir, wenn wir von Interkulturalität im Theater sprechen? Ich war versucht, mich über dieses Thema auszubreiten und alle Spielarten zu nennen, die einem einfallen, von Gastspielen ausländischer oder anderssprachiger Produktionen im Ausland, wie z. B. das Chinesische Nationaltheater, das kürzlich seine Produktion LEBEN! mit dem berühmten Schauspieler HuangBo am Deutschen Theater Berlin zeigte, oder deutsche Vorstellungen, die für ein mögliches ausländisches oder anderweitig nicht-deutschsprachiges Publikum übertitelt werden, wie es an der schaubühne oder jetzt am Maxim-Gorki-Theater in Berlin praktiziert wird. Oder sprechen wir über Interkulturalität, wenn ein chinesischer Regisseur Ibsen in New York inszeniert, wie Wang Chong kürzlich mit seiner jüngsten Produktion IBSEN IN ONE TAKE? Zwar ist diese Frage selbst sehr interessant, dennoch habe ich mich entschieden, mich nicht zu tief in das Thema zu stürzen. Es ist tatsächlich ein Sack Flöhe.
Hier konzentriere ich mich darauf, was wir in unserer eigenen Produktion in Erlangen vor einigen Jahren versucht haben. Wir wollten diese Begegnung nutzen, um den interkulturellen Aspekt auf allen möglichen Produktionsebenen zu untersuchen.
Im Sommer 2009 konnte unser gemeinnütziger Verein raum4-netzwerk für künstlerische alltagsbewältigung e. V. das Theater Erlangen dafür gewinnen, einen Antrag für eine Zusammenarbeit mit unserem Partner „Theater der Generationen“ – dem St. Petersburger Teatr Pokoleniy in der Produktion SUMSUM²-EINE GRENZENLOSE LIEBES- UND SPRACHVERWIRRUNG zu stellen, die von raum4 konzipiert worden war. Wir haben uns bei der Kulturstiftung des Bundes für ein Programm namens WANDERLUST beworben, welches zum Beginn im folgenden Jahr gerade neu ausgeschrieben worden war. Nach Monaten gespannten Wartens und immenser Vorbereitungen waren wir sehr froh, als wir im Januar 2010 erfuhren, dass unsere Bewerbung erfolgreich gewesen war.
Wanderlust
Wann und wo finden wir im Theater Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen und Sprachen, die auf allen Produktionsebenen zusammenarbeiten? Wir müssen zugeben: nahezu nie. Dann aber auch: zunehmend öfter.
Einige Worten zum Fonds Wanderlust:
In Deutschland war und ist für eine starke Veränderung der Theaterlandschaft in Richtung Interkulturalität die Intervention der Kulturstiftung des Bundes seit 2010 verantwortlich. Ihr Fonds Wanderlust, der von 2010 bis 2012 aufgelegt wurde, hat dabei die Zusammenarbeit von Stadt- und Staatstheatern mit ausländischen Theatern/Ensembles als „Internationale Theaterpartnerschaften“ gefördert und das Ruder der Theaterlandschaft hart in Richtung Internationalität umgelegt. In diesen drei Jahren wurden Produktionen im Wert von 5 Mio. Euro gefördert, wobei der sogenannte Mobilitätsanteil jeweils zwischen einem Drittel und der Hälfte der Produktionskosten lag, abhängig auch von den Partnern der deutschen Theater, die z. T. aus Frankreich oder den Niederlanden kamen, zum Teil aber auch aus Palästina, Indien oder eben China.
28 deutsche Theater aus 22 deutschen Städten sowie ihre 28 Partnertheater aus 20 Ländern weltweit, rund 1.300 Theatermitarbeiter und mehr als 167.000 Zuschauer auf der ganzen Welt konnten in den vergangenen fünf Jahren von dem Fonds Wanderlust profitieren.
Nach Beendigung des Programms Wanderlust Ende 2012 hat sich die Kulturstiftung des Bundes unter anderem folgende Fragen gestellt:
http://www.wanderlust-blog.de/?p=5738, Stand vom 08. April 2014
Hier sind – ganz oberflächlich – einige der Ergebnisse:
Die Auswertung zeigt, dass die mehrjährige Förderung bei der großen Mehrheit der Theater unterschiedlichste Veränderungen bewirkt hat: 82 % der befragten Projektleiter sprechen von einer „Horizonterweiterung“ an ihrem Haus: größeres Selbstvertrauen und eine stärkere Gelassenheit des Leitungsteams im Hinblick auf internationale Kooperationen, eine größere Offenheit der Mitarbeiter hinsichtlich der neuen Ausrichtung eines Theaters und eine höhere Bereitschaft zur damit verbundenen Mehrarbeit wurden als Folge der Förderung beschrieben. Darüber hinaus konnte der Fonds Impulse in verschiedenen Bereichen der Theater wie Spielplangestaltung (wie beispielsweise beim Theater Konstanz), Gastspieltätigkeit (Puppentheater Halle), Raumnutzung (Theater Freiburg) oder Marketing (Theater Heidelberg) setzen.
http://www.wanderlust-blog.de/?p=5738, Stand vom 08. April 2014
Wir sehen, dass diese kulturpolitischen Investitionen des Bundes nachhaltige Wirkung zeigen. Das sind natürlich die erfreulichen Seiten. Gerade im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit polnischen Partnern scheint das Programm besonders erfolgreich gewesen zu sein. Wobei ich aus eigener Erfahrung berichten kann, dass Polen selbst das Kriterium eines gemeinsamen kulturellen Kontextes trotz einer beachtlichen Sprachgrenze, die auch eine Sprachraumgrenze ist, erfüllt und zweitens selbst eine extrem aktive und ähnlich strukturierte Theaterkultur betreibt.
Darüber hinaus gibt es einige andere Programme, die internationale Kollaborationen unterstützen, aber ihre Zahl ist begrenzt. Die Kulturstiftung des Bundes war mit ihrer Intervention für eine spürbare Veränderung der deutschen Theaterlandschaft in Richtung mehr Interkulturalität seit 2010 verantwortlich. Seit 2013 hat auch die Robert-Bosch-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Theaterinstitut, ITI Germany, ein Theaterprogramm Szenenwechsel aufgelegt, allerdings bieten sie lediglich Mobilitätsfonds im jeweiligen Umfang bis 15.000 EUR pro Projekt an.
Die Projekte sollen einen intensiven kulturellen Austausch erwarten lassen und auf eine umfassende Zusammenarbeit abzielen. Eine thematische wie praktische Auseinandersetzung mit dem Partnerland muss in der künstlerischen Arbeit ersichtlich sein. Die Förderprojekte sollen neue Erfahrungsräume erschließen und andere Lebenswelten reflektieren. (…)
Im Rahmen von SZENENWECHSEL werden Kosten gefördert, die die Begegnung, den Austausch und die Zusammenarbeit betreffen, wie Honorare für Übersetzen und Dolmetschen, Inszenierungs-, Projektentwicklung, Probenarbeit, Reise- und Unterkunftskosten für gegenseitige Besuche.
http://www.szenenwechsel.org/de/forderungausschreibung/directives-du-programme/, Stand vom 08. April 2014
Im letzten (und ersten) Jahr wurden 10 Projekte gefördert, der Fonds hat also ein Budget von ca. 150.000 EUR.
Außer diesen beiden kann man sich noch für EU-orientierte Zusammenarbeiten noch an den Europäischen Kulturfonds ECF wenden. Ähnlich wie die Bosch-Stiftung konzentrieren sich seine Programme auf die Stärkung der kulturellen europäischen Verständigung in Form eines Mobilitätsfonds von West- nach Osteuropa bzw. Koproduktionsförderung der westeuropäischen Länder mit denen des Balkans anbieten.
SumSum²
Nach dem ich den politischen Rahmen grob aufgezeigt habe, möchte ich nun von unseren Erfahrungen in dieser Arbeit etwas detaillierter berichten. Für Laura de Wecks Theatertext SumSum als Grundlage für unsere russisch-deutsche Produktion haben wir uns einerseits aufgrund der vorderhand schlichten, explizit nicht lokalreferenziellen Story entschieden, die komplexere, übergeordnete oder gar politische Zusammenhänge ausklammert. Wir versprachen uns davon eine Übertragbarkeit sowohl auf russische wie auch auf deutsche Verhältnisse, und andererseits bot sich das kurze Stück auch deswegen besonders an, weil es eine Art Liebesgeschichte über Ländergrenzen (und implizit wohl über Kontinente) hinweg erzählt. Die schrieben wir auf die russischen und deutschen Verhältnisse um und erzählten sie doppelt und gleichzeitig und in jeder Richtung.
SUMSUM² war ein sehr ambitioniertes Projekt, wobei sich unser Ehrgeiz auf die Begegnung der Künstler in den Produktionshälften einerseits sowie auch der Produktionsteile in der endgültigen Inszenierung andererseits konzentrierte. Anita Kerzmann hat uns bestätigt, dass unsere Produktion in dieser Hinsicht (zu dem Zeitpunkt) die ehrgeizigste im gesamten Wanderlust-Portfolio war.
Wir hatten für die gesamte Zusammenarbeit ein Budget von ca. 250.000 EUR über drei Jahre. Darin eingeschlossen waren drei Schritte:
- die große Produktion selbst,
- ein Personalaustausch für einen Monat sowie
- jeweils ein Gastspiel beim anderen Partner.
Welches war unser Ziel?
Wir wollten sowohl das Publikum als auch die Beteiligten so intensiv wie möglich der Erfahrung der anderen Sprache und Kultur aussetzen.
Wie haben wir das erreicht?
Wir haben beide Kulturen auf allen Produktionsebenen vermischt:
- Die deutsche Geschichte des Originals, wo die Nicht-Kommunikation der Figuren eine Theaterannahme bleibt, haben wir dahingehend adaptiert, dass die Darsteller der russischen und deutschen Figuren, die im Stück nicht dieselbe Sprache sprechen, sich tatsächlich nicht verstehen. Das hat die Komik des Originals etwas reduziert, aber auf anderen Ebenen sowohl Komik als auch Ernsthaftigkeit erzeugt.
- Wir haben zwei Versionen entwickelt, um die Geschichte sowohl aus der russischen als auch aus der deutschen Perspektive zu erzählen.
- Beide Versionen waren bilingual und haben sich ergänzt.
- Diese beiden Versionen wurden mit gemischter Besetzung aus russischen und deutschen Darstellern mit einem deutschen Regisseur in St. Petersburg in Russland und einem russischen Regisseur in Erlangen geprobt.
- Wir planten, diese beiden Teile in der Endprobenphase zu verbinden und einen einzigen Theaterabend daraus zu machen, der beide Geschichten zeitgleich erzählt. Da wir außerdem Pläne hatten, wie die Produktion für das deutsche bzw. russische Publikum strukturiert werden sollte, stellten wir bald fest, dass wir die Inszenierung umkehren müssten, wenn sie in Russland auf die Bühne käme. Außerdem war der Spielort dort, das Baltiskiy Dom (Baltisches Haus) sehr verschieden von der Erlanger Studiobühne, so dass eine neue Bühne gebaut werden musste.
- Wir hatten keine Vorstellung davon, wie der endgültige Abend aussehen würde.
Welches war unsere Erwartung?
Wir zählten darauf, dass die unterschiedlichen Kulturen zu zwei unterschiedlichen Lesarten des Stücks führen würden, und wir erwarteten auch, dass diese Lesarten, zusammen mit den Unterschieden der Theatertraditionen, sehr verschiedene Darstellungsweisen hervorbrächten.
Welches waren die Ergebnisse?
Im Verlauf der Produktion erlebten wir mehrmals Überraschungen. Ich berichtete lediglich von vier Zusammenhängen. Dieser Bericht klingt vielleicht äußerst problematisch, daher möchte ich betonen, dass das Projekt eine spannende, denkwürdige und lehrreiche Erfahrung für mich war. Sogar so sehr, dass ich später den Eindruck hatte, ein weiteres raum4-Projekt anzuschließen, bei dem drei Länder und Sprachen beteiligt wären.
- Die erste Situation war finanzieller Natur: die Produkt erhielt ihre Finanzierung von der Kulturstiftung in Halle, die das Geld in Raten an das antragstellende Theater Erlangen schickte. Erlangen, das lernten wir dabei, ist ein sogenannter „Regiebetrieb“, d. h. dass das Theater über keine eigene Buchhaltung verfügt, sondern Teil der Erlanger Stadtverwaltung ist. Alle Gelder, die das Theater erhält oder ausgibt, verbleiben bei der Stadt und werden vom Stadtkämmerer verwaltet. Jedes Mal, wenn Geld aus Halle kam, blieb es erst einige Tage auf dem Tisch des Kämmerers, bis es schließlich angewiesen wurde und verfügbar war. Unser Partnertheater in St. Petersburg benötigte ebenfalls Geld zum Begleichen der Rechnungen, Miete, Kostüme, Honorare der Darsteller usw. Daher mussten die Kollegen ein Konto eröffnen, das für den Empfang von internationalen Überweisungen geeignet war. Das russische System ist da sogar noch bürokratischer. Es dauerte jeweils mehrere Tage, bis das Geld in St. Petersburg ankam und noch länger, bis es verfügbar war. Aufgrund der Struktur der Produktion waren die russischen Darsteller, die für sieben oder acht Wochen in Erlangen probten, beim Teatr Pokoleniy angestellt und mussten darüber bezahlt werden, allerdings mit dem Geld, das Halle nach Erlangen geschickt hatte. Ihr Geld wurde also tatsächlich von Erlangen nach St. Petersburg geschickt und musste von dort wieder zurückgeschickt werden, damit sie Lebensmittel kaufen und ihren Aufenthalt bezahlen konnten. All das hat den Prozess um Wochen verzögert.
- Das zweite Schwierigkeit erwuchs aus den unterschiedlichen Theatertraditionen, wie wir es uns erhofft hatten, nur nicht immer auf gute und interessante Weise. Zwar kennen wir in Deutschland eine Probensituation, in er Regie und Leitungsteam eine künstlerische Vision haben, diese wird aber gewöhnlich mit dem Ensemble besprochen und gemeinsam entwickelt. Wenigstens gibt es ein Grundverständnis, dass die Schauspieler persönlich und politisch für das Ergebnis des Prozesses mitverantwortlich sind. Daher gibt es im deutschen Probenprozess regelmäßig Diskussionen. Im Allgemeinen ist die russische Tradition etwas mehr regieorientiert und hierarchischer. Die Darsteller stellen in der Regel das künstlerische Konzept nicht in Frage oder mischen sich darin ein. Au diesen Unterschieden und angesichts der trotz der professionellen Dolmetscher, die wir engagiert hatten, eingeschränkten Kommunikation, erwuchs eine gewisse Spannung und Intoleranz, wo wir auf eine Begegnung gehofft hatten, die von gegenseitiger Neugier geprägt wäre.
- Im Stück gibt es die Figur eines Priesters. Es ist keine große Rolle, und die Darsteller Matthias Bernhold und Sergey Mardar hatten ihren Spaß damit. Matthias Bernhold, der auch als Musiker fungierte, versuchte alle möglichen Interpretationen, verwendete die außergewöhnlichsten Kostüme und brachte die Rolle in alle möglichen Konfessionen, so dass er an einem gewissen Punkt ziemlich abgerissen und schamanenhaft aussah und komische Rituale und Zauberkünste ausübte.
- Der künstlerische Leiter des Teatr Pokoleniy Danila Korogodsky nahm schließlich das Leitungsteam zur Seite und formulierte, was offenbar schon viele dachten: wir können unmöglich den Priester wie einen Obdachlosen auftreten lassen. Wenn in Russland jemand von offizieller Seite mitbekommt, sähe das aus, als ob wir jemanden lächerlich machten, der die Kirche repräsentiert. Das wäre für uns als Theater gefährlich. Wir waren also zum ersten Mal in meiner Laufbahn mit dem Phänomen künstlerischer und politischer Zensur konfrontiert. Man bedenke: das war 2010, lange vor den Geschehnissen um Pussy Riot und vor der restaurativen Allianz, die Putin und die orthodoxe Kirche zwischen Staat und Kirche geschlossen haben. Wir mussten uns entscheiden, die künstlerische Freiheit der Produktion einzuschränken, damit wir das Bestehen unseres Partnertheaters nicht gefährdeten. Natürlich wäre keine geheime oder politische Polizei hereinspaziert und hätte jemanden festgenommen. Für gewöhnlich werden die Lokale von der Feuerwehr aufgrund von mangelnder Brandschutzmaßnahmen geschlossen. Unser Partnertheater hatte auf diese Weise schon die letzten Räumlichkeiten an die Feuerwehr verloren, in derselben Welle, bei der 2009 viele Spielstätten geschlossen wurden, wie man vielleicht erinnert.
- Die letzte Schwierigkeit war nichtpolitischer Natur, ein sehr praktisches Problem. Wenn Schauspieler ihren Text lernen, lernen sie auch den Text der Spielpartner und lernen ihren Text oft mit ihnen zusammen, damit sie nicht nur wissen, was sie zu sagen haben, sondern auch wann sie es sagen müssen. Sie müssen ihre Stichwörter kennen, ob das nun Lichtzeichen, Tonzeichen oder, wie meistens, Text von den Kollegen au der Bühne ist. In unserem Fall, wie auch bei vielen anderen Wanderlust-Produktionen, bei denen eher ungewöhnliche Sprachen einen Rolle spielten, konnten die Darsteller nicht verstehen, was der andere sagte, noch konnten sie anfänglich auch nur phonetisch auseinanderhalten, wo die letzte Text endet und das letzte Stichwort fiel und sie ihren eigenen Text sagen konnten. Dieses kleine Problem erwies sich als sehr hartnäckig, und erst kurz vor den Endproben gelang es den Schauspielern, nicht mehr mitten in der Szene zu unterbrechen und zu fragen: war es das? Ist er fertig? Hat sie mein Stichwort schon gesagt? Die Schauspieler brauchten eine Weile, ehe sie lernten, dass sie ihren Text überhaupt nicht verändern durften, damit alle ihren Text richtig sprechen konnten.
- Unsere Vorstellung des nicht geplanten, offenen Ergebnisses fiel ein wenig auf uns zurück, denn es zeigte sich, dass es so viele Erwartungen hinsichtlich des Ergebnisses gab wie Beteiligte an der Produktion, und natürlich mussten die meisten enttäuscht werden.
Wir waren sehr überrascht, als wir im Ergebnis merkten, dass die Unterschiede zwischen den beiden Teilen, die aus unterschiedlichem kulturellem Hintergrund herrührten, viel weniger sichtbar waren als wir gehofft hatten. Wir hatten darauf gezählt, dass das irgendwie automatisch und unweigerlich geschehen würde, aufgrund der zwei verschiedenen Regisseure usw. Im Rückblick scheint offensichtlich, das genau der Teil, auf den wir uns so verlassen hatten, viel gründlicher vorbereitet hätte werden müssen, damit er sichtbarer würde. Wir hatten gehofft, Missverständnisse mit Missverständnissen abbilden zu können – spannender Gedanken, aber deutlich falsch.
Noch einmal: auch wenn ich mich hier auf die Schwierigkeiten konzentriere, war diese Produktion für mich sehr wichtig. Sie war fruchtbringend, sehr befriedigend, und hat auch viel Spaß gemacht. Ein genauerer Bericht über die Produktion findet sich hier: Produktionsbericht SumSum² vom Dramaturgen Henning Bochert.
CHINA
Bei diesem Workshop der FAU geht es auch um chinesisches Theater, daher möchte ich versuchen, den Bogen zu chinesischen Zusammenhängen zu schlagen, soweit ich damit vertraut bin, was zugegebenermaßen sehr wenig ist.Eine andere Produktion im Rahmen von Wanderlust hat diese Fallstricke viel besser vermieden. DAS WEISSE ZIMMER war eine Zusammenarbeit des Theaters Paderborn mit dem Huayujuan-Theater Qingdao 2011. Der Autor Andreas Sauter hat das Stück eigens dafür geschrieben, die Regisseurin Maya Fanke hat es inszeniert und damit in China auch den Goldenen Löwen gewonnen – zum ersten Mal wurde dieser höchste chinesische Theaterpreis an eine nicht-chinesische Produktion verliehen. Andreas Sauter hatte, laut eigener Aussage, keinerlei Kenntnis oder Erfahrung über China und hat dem entsprechend das Stück auch aus dieser Perspektive geschrieben. Dabei hat er sich auf einen Märchenstoff konzentriert. Stefan Keim hat geschrieben:
Der Schweizer Autor Andreas Sauter erzählt die Geschichte einer großen Liebe, die durch einen Krieg auseinander gerissen wird. Viele Filme aus dem asiatischen Raum haben ähnliche Plots. Meistens wirken sie für den europäischen Geschmack etwas kitschig, weil die Schauspieler sich hemmungslos in die Emotionen stürzen und dazu ein fetter Violinensoundtrack schmalzt. Nichts davon auf der Bühne. Ruhig, sanft, geradezu bescheiden nähern sich die Schauspieler den großen Gefühlen.
Und weiter:
Vieles bleibt rätselhaft in diesem Stück, und das ist eine Stärke. Was die Regisseurin Maya Fanke erkannt hat. Sie findet einen Mittelweg zwischen stilisiertem und psychologischem Spiel. Die Schauspieler wechseln oft die Rollen, ganz organisch gehen Dialoge und erzählende Texte ineinander über. Fast wirkt das Stück wie eine besonders gelungene Romanadaption, ist aber direkt für das Theater entstanden, genauer für diese Koproduktion des Huajuyuan-Theaters in Qingdao mit dem Theater Paderborn.
http://www.wanderlust-blog.de/?p=4465
Das Team hat versucht, die Verantwortung für den kulturellen Austausch innerhalb dieses Programms von den Schultern der Theaterproduktion selbst zu nehmen und stattdessen Vorlesungen an der Universität Qingdao gehalten, mehr Personal als wir bei SUMSUM² ausgetauscht, Workshops angeboten und eine Fotoausstellung in Paderborn und Qingdao präsentiert. Als Grundlage für Sauters Stück haben sie einen Märchenstoff über einen gestohlenen Drachenzahn verwendet, den das chinesische Ensemble beigesteuert hat (den Stoff, nicht den Zahn). Laut Maren Simoneit, der Produktionsdramaturgin, wurden auch bestimmte Stellen der Struktur des Stücks, nachdem es fertig war, zugunsten einer chinesischen narrativen Anforderungen und Sehgewohnheiten angepasst. Auf Bitten der chinesischen Kollegen wurde auch das Verhalten der weiblichen Hauptfigur in einer Szene geändert, da es für sie undenkbar gewesen wäre, in den 1930er oder 1940er Jahren, wo die Szene spielt, von sich aus die männliche Hauptfigur zu küssen.
ÜBERTRAGBARKEIT
Damit stellt sich in der Konsequenz die zentrale Frage: Ist Theater transportierbar? Sind die Inhalte, die Theater produziert, und die künstlerische Sprache, die es wählt, in einem anderen Kulturzusammenhang verständlich? Die Antwort lautet ganz eindeutig: das kommt drauf an.
In der Regel ist ein Theater, das gesellschaftlich und politisch relevante Fragen stellt, an lokale bzw. regionale oder sogar nationale Verhältnisse gebunden. Die Theatermacher behandeln Themen, die das Publikum vor Ort ansprechen und also zu seiner spezifischen Lebenswelt einen Bezug haben. Das gilt insbesondere für im weitesten Sinn politische und historische Stücke. Das gesprochene Wort transportiert gesellschaftliche, emotionale oder politische Kontexte oder alles zusammen. Diese Kontexte sind vom Publikum lesbar, wenn sie geteilt werden.
Die chinesischen Künstler, mit denen ich bei meinem bisher einzigen Besuch in der Volksrepublik 2010 sprechen konnte, ordnen sich hier unterschiedlich ein.
- Der Autor Guo Shixing, der auch 2009 beim China-Festival in Düsseldorf bei einer Veranstaltung zum chinesischen Theater eingeladen war und dessen Theaterstück „Toilette“ oder „Klo“ dort besprochen wurde, arbeitet mit sehr chinaspezifischen Theaterformen und Inhalten. Damit sind die Stücke für ein nicht-chinesisches Publikum nicht transparent genug.
- Zhao Chuan, Leiter der Grasbühne in Shanghai, war kürzlich im chinesisch-deutschen Universitätsaustausch der UdK in Berlin. Sein Ansatz ist interessant: er arbeitet mit seinem Laientheater ausschließlich im chinesischen Zusammenhang, wird aber viel ins asiatische Ausland wie Korea und Japan eingeladen. Die Produktionen selbst gehen, soweit ich weiß, nicht ins Ausland, sie sind inhaltlich sehr auf chinesische Verhältnisse zugeschnitten.
- Wang Chong, der junge Regisseur, ist mit seinem théâtre du rêve expérimental durch China getourt und hat europäische Festivals bereist und arbeitet inzwischen in NYC. „Ich stelle mich auf die Schultern der Meister“, sagte mir der selbstbewusste junge Mann, der zuerst europäische Avantgardestoffe wie Peter Handke und Heiner Müller in die Hand nahm und zugegeben sehr frei interpretierte, da ihm der deutsche Originaltext nicht zugänglich war. Mittlerweile ist seine Arbeit international ein Erfolg, weil sie chinesische traditionelle Motive und Fragestellungen mit westlichen Stoffen und Formen verbindet. In jüngerer Zeit konnte er auch mit mehreren Arbeiten zu Ibsen (Ibsen in one take, Peer Gynt, Baumeister Sollness) Aufmerksamkeit erregen.
- Als weiteres Beispiel kann in diesem Zusammenhang vielleicht die jüngst in Berlin gezeigte Produktion des Chinesischen Nationaltheaters mit dem Titel LEBEN! und dem bekannten Darsteller HuangBo in der Hauptrolle dienen. Die Produktion war für den internationalen Austausch – in dem Fall mit dem Deutschen Theater Berlin – perfekt geeignet. Sie bietet inszenatorisch eine Ästhetik, die hiesigen Sehgewohnheiten entspricht, ist mit ihren mehr als 3 Stunden Spieldauer eine imposante Größe, die Sprachbarriere wurde mit wunderbar gelungenen Übertiteln von Stefan Christen überwunden. Der künstlerische Schwerpunkt liegt auf der poetischen Qualität. Man mag einwenden, dass diese von des Chinesischen weniger Mächtigen nur erahnt werden kann. Inhaltlich ist die Inszenierung – eine Art Hiobsgeschichte – rührend und melodramatisch. Komplexere historische Bezüge zur Politik der vergangenen Jahrzehnte in China sind lediglich stichwortartig erwähnt, die brennenden Fragen in China werden entweder von vornherein nicht benannt, oder sie blieben dem deutschen Publikum verborgen.
Womit wir zu einer offenen Frage kommen: wie viel Interkulturalität kann letztlich in die Inszenierung gestopft werden? Wie viel von den kulturellen Unterschieden, von all den spannenden Dingen, die im Rahmen einer Produktion geschehen, kann man einem Publikum wirklich vermitteln? Wenn man mit einem Stücktext anstatt mit einer Stückentwicklung arbeitet, ist es eigentlich nicht möglich, viele der Vorfälle, die für die grundsätzlichen Missverständnisse oder sogar Ignoranz zwischen den beteiligten Kulturgruppen typisch sind, einzuflechten. Viele der interkulturellen Produktionen im Rahmen der Wanderlust-Förderung beschlossen, weniger konfliktträchtiges Material zu verwenden und eine „funktionierende“ Produktion zu bauen und die Ansprüche an die Begegnung mit der anderen Kultur auf Erlebnisse außerhalb der Bühne zu beschränken. Die Inszenierung selbst wird wahrscheinlich davon profitieren, allerdings kann da Publikum an diesen Erfahrungen dann natürlich leider nicht teilhaben.
Die Differenzen liegen nicht so sehr im Alltäglichen (in einer globalisierten Welt immer weniger), sondern vielmehr in der unterschiedlichen Bewertung gleicher Zusammenhänge, Zeichen, Vorgänge. Dabei sind klassischerweise entscheidend:
- die Rolle der Geschlechter;
- die Rolle von Religion bzw. die gesellschaftliche Bewertung von Religion;
- die Rolle der Staatsphilosophie/des politischen Systems und dessen Werten (z. B. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit etc.).
Unterschiedliche Geschlechterkonzepte führen zu anderen Lesarten von Situationen im Stück und während der Produktion. Unterschiede in der gesellschaftlichen Aufstellung können Situationen im Stück oder in der Arbeitssituation nicht entschlüsselbar machen, wenn es etwa, wie in England, stärkere Klassenunterschiede gibt, oder das Alter einen unterschiedlichen Stellenwert hat, wie vielleicht in der chinesischen Gesellschaft. Außerdem sind in der Begegnung mit der anderen Kultur unsere Wahrnehmungen von ihr von Vorstellungen geprägt, die nicht zutreffen müssen. Vorurteile und Klischees verstellen uns den Blick auf das Gegebene und verhindern, dass wir den Kollegen wirklich zuhören bzw. Vorgänge oder Situationen wirklich verstehen können – auf oder hinter der Bühne.
Einige sind generell pessimistisch, was die Fähigkeit des Theaters angeht, zwischen Kulturen zu vermitteln. Marc Schaefers und Tobias Philippen von der Kölner Künstleragentur schaefersphilippen meinten vor einigen Jahren: der inhaltlichen Transportfähigkeit und Vermittelbarkeit von Theater stünde doch sein lokal oder regional oder national bezogenes Wesen entgegen. Mit anderen Worten: was in Franken vielleicht interessant ist, weil es einen bestimmten Geist einfängt und auf aktuelle Debatten abhebt, ist möglicherweise in Toronto oder Seoul oder Guangdong ausgesprochen bedeutungslos.
Allgemeiner gesprochen: Für eine interkulturelle Arbeit, die wirklich in konfliktträchtige Bereiche vordringen und sich mit den jeweiligen Differenzen auseinandersetzen möchte, ist ein hohes Maß an Sensibilität, Geduld, Verständnis erforderlich, schon in der Planung – sowie ein sehr gründliches, eingearbeitetes Team, um diese Probleme anzugehen.
Die Frage, wie sehr Theater geeignet ist, kulturelle Begegnungen und die vielfältigen damit verbundenen Missverständnisse, Konflikte, Vorurteile usw. zu präsentieren, bleibt offen und ist abhängig von den spezifischen Bedingungen der Partner, dem Budget sowie den einzelnen Beteiligten.
Das Theater als Präsenzmedium ist meiner Überzeugung nach allerdings ein Medium, das durch sein Wesen der kollektiven Arbeit und der leibhaftigen Kommunikation mit einem Publikum sowie der Zeichenhaftigkeit seiner Traditionen die besten Voraussetzungen birgt, um die Herausforderungen der Begegnungen unterschiedlicher Kulturen und des Brückenschlags zwischen ihnen zu meistern.
Rechte Das Weiße Zimmer: Theater Paderborn
Rechte alle übrigen Bilder: photomaria.ru
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