Halldór Laxness
Halldór Laxness’ ISLANDGLOCKE (ÍSLANDSKLUKKAN, 1943-46) ist noch viel besser als sein auch schon erstaunliches, etwas älteres WELTLICHT. Am Ende des zweiten Weltkriegs beschreibt Laxness in seiner Trilogie ein Island um 1700, als die Dänen es seit 400 Jahren im Besitz und unter Besatzung hatten – dasselbe Land, das erst vor kurzem in der Finanzkrise nahezu ausradiert wurde, sich aber nun allmählich wieder erholt, als Musterbeispiel für alle Sparpolitiker. Weit mehr Historie umfassend als Laxness’ früherer Künstlerroman, dabei nur zwei Drittel seines Umfangs, balanciert die wunderbare ISLANDGLOCKE des Nobelpreisträgers mehrere Themen und Erzählstränge.
JON HREGGVIDSSON
Der erste Teil schildert Verurteilung, Haft und Flucht des Angelschnurdiebs Jon Hreggvidsson, der das Maul nicht halten kann und zu Fuß über Land und per Schiff bis nach Europa flieht. Dieser Teil, eine Art Schelmenroman, erzählt die grausamsten und unglaublichsten Ereignisse in flottem Tempo mit verblüffenden Wendungen. Nach seiner Auspeitschung für den unerheblichen Diebstahl erlebt der Bauer Hreggvidsson noch, wie der Gelehrte Arnaeus in seiner Wohnung Fetzen eines uralten isländischen Buches sucht und findet. Schon wird er verhaftet und für seine Spottverse gegen den König bis zu seiner Verhandlung monatelang in ein Erdloch gesteckt. Die isländische Gerichtsbarkeit ist so grausam wie in Kolonien üblich und straft die Leute für das Elend, das die Kolonialmacht erst über sie bringt:
Einer war mit englischem Tabak erwischt worden. Ein anderer hatte seine Wolle mit Sand schwerer gemacht. Einige hatten heimlich Mehl in Eyrarbakki gekauft, weil das Mehl in Keflavik schimmlig und voller Würmer war. Ein paar hatten ihren Kaufmann einen Dieb genannt. So ging es weiter ohne Ende, und alle wurden gestäupt. Die Peitsche des Königs tanzte lustig und ohne Unterlass über ausgemergelte isländische Leiber, die man auf den Boden gelegt hatte.
Hreggvidsson wird der Verhöhnung der dänischen Majestät für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Kurz vor seiner Hinrichtung befreit ihn jedoch die junge Snaefridur Islandsol, sagenhaft schöne Tochter des obersten Richters. In diesem Teil sehen Dialoge noch so aus:
Warum Silber? Warum nicht Gold?
Der Blinde antwortete: Ich habe auch Gold geschmiedet.
Warum hast du dann nicht Gold gesagt? fragte der Aufgedunsene.
Ich mag Silber lieber als Gold, sagte der Blinde.
Ich mag Gold lieber, sagte der Aufgedunsene.
Ich habe bemerkt, dass die wenigsten Gold um seiner selbst willen mögen, sagte der Blinde.
Ich mag Silber um seiner selbst willen.
Ein Detail übersieht man beinahe: nebenbei nennt der Autor seine isländischen Figuren immer wieder mit dänischen Namen, der Sprache und Schreibweise der Besatzer, die, wie alle Besatzer in der Geschichte, sich für Wohltäter gehalten und gepriesen, ihre Schutzgebiete aber mit harter Hand ausgepresst haben und von den Unterdrückten für alles Übel verantwortlich gemacht wurden. Die Ausnahme sind jene, die als Günstlinge des fernen Königs seine Macht gegen die eigenen Landsleute umso grausamer ausüben. Dies ist eines der Themen dieses Werks über das bitterarme und schmerzlich schöne Island. In dem kleinen Ding der Schreibweise des eigenen Namens im Land der Unterdrücker erscheint gleich die ganze lange Kette der Zusammenhänge, in denen Sprache zum Politikum wird, in denen die Sprachen der Unterdrückten oder Ausgegrenzten verboten werden, der Aborigines in Australien, der ausgerotteten Tasmaniens, des Tschetschenischen, des Jiddischen, des Gälischen, der Sprachen Afrikas und Indiens und stets der nativen Sprachen gegenüber der Sprachen der Imperien; die dumme, brutale Überheblichkeit der gleichmacherischen Standards gegenüber der Poesie der kleinen Sprachen. Wenn, wie hier, Jon Hreggvidsson nur noch Reckvidsen heißt, oder gar Reckwitz.
SNAEFRIDUR ISLANDSOL UND ARNAS ARNAEUS
Der zweite Teil, nach Hreggvidssons Rückkehr aus Europa, wird detaillierter und ernster. Dank der geduldigen Erzählweise, die poetischen Stil mit ironischer Spitze und scharfen Dialogen verbindet, kommt die komplexe Geschichte um die heimliche und unglückliche Liebe zwischen Snaefridur Islandsol und dem Gelehrten Arnas Arnaeus erst allmählich ans Licht. Helmut Seelow danken wir, der sie geschmeidig in die deutsche Sprache zu kleiden vermochte. Die Erzählfäden sind strukturell so kunstvoll verwoben wie die Teppiche und Decken, welche die edle, kluge Dame Snaefridur in ihrer Kammer webt. Es sind die Geschichten der isländischen Literatur selbst, denen Arnas durch die weite Welt auf die Spur zu kommen versucht, indem er alle Bibliotheken von Sachsen bis Rom nach den verschollenen, uralten, isländischen Büchern durchforstet:
Es ist nun einmal so gekommen, (…) dass dieses Volk, das die bedeutendsten litteras in Europa seit antiqui besessen hat, jetzt lieber auf Kalbshaut geht und Kalbshaut isst, anstatt alte Schriften auf Kalbshaut zu lesen.
Da ist die Geschichte von Recht und Gerechtigkeit unter der Jurisprudenz jener emporgekommenen Insulaner, die sich opportunistisch an die Kolonialmacht anbiedern; da ist die Geschichte des doppelzüngigen, protestantischen Klerus, die der Autor mit erfrischend klarer Position schildert, wenn Snaefridur mit dem Pfarrer mehrmals kluge Streitgespräche führt, während der hölzerne Schmerzensmann bloß jämmerlich und hässlich dasteht; es ist der Kampf dieser Frau um Würde in einem gänzlich in den Schlamm getretenen Land; es ist der Kampf ihres trunksüchtigen Mannes Magnus Sigurdsson um seine Ehre und um diese Frau, die ihn nie liebte und umso geduldiger mit ihm sein konnte; es ist vor allem die Geschichte eines Landes, das gleichzeitig ausgeweidet und bespuckt und verlacht wurde.
Magnus Sigurdsson, fragte der Bärtige. Ist das nicht der, der seine Frau für Branntwein an einen Dänen verkauft hat?
Doch, sagte sie.
Und sie dann mit der Axt erschlagen wollte?
Ja, sagte sie.
Laxness’ poetische Meisterschaft erreicht ihre Höhen im Zwiegespräch der Liebenden Snaefridur und Arnas – es wird geradezu Gesang. Das ist jedoch die Ausnahme, denn meist ist die Sprache selbst politisch, nicht zuletzt, wenn das Lateinische als Emblem der Bildungselite in ihren gelehrten Streitgesprächen blitzt wie blanke Klingen und zeigt, dass sie mit Worten um ihr Leben fechten wie Samurai. Überhaupt scheint der scharfe und ausführliche Dialog das Instrument der Wahl zu sein in diesem zweiten Teil, in dem Snaefridur mit dem Pfarrer streitet, Snaefridur mit ihrer Schwester, Hreggvidsson gegen den Pfarrer, Hreggvidsson gegen den Bischof, Hreggvidsson mit Arnas. Mit verblüffender Schlagfertigkeit und seitenlanger Kunstfertigkeit führen die Figuren ihre Argumente gegeneinander ins Feld, dass es nur so eine Freude ist.
ISLAND UND DÄNEMARK
Im dritten Teil stoßen wir Jahre später bei Hofe des Königs von Dänemark wieder auf Arnas Arnaeus, als sich die Gewichte auf der internationalen Ebene verschieben. Der dänische König stirbt, Arnaeus fällt plötzlich in Ungnade, und seine juristischen Anstrengungen um eine gerechtere Rechtsprechung in Island werden zunichte gemacht. Auf der Insel selbst hat die Pockenepidemie die meisten Figuren aus den ersten Teilen dahingerafft. Hreggvidsson ist inzwischen ein alter Mann, aber er bleibt – großartige Anlage des Romans – Spielball im Kampf derselben Mächte, die ihn zeit seines Lebens instrumentalisiert und umgetrieben haben. Sein immer wieder aufgenommener Prozess wird ein letztes Mal aufgewickelt und umgedeutet. Diesmal sorgt dieselbe Snaefridur, die ihn damals befreit hat, für seinen gewissen Abtransport in das berüchtigte dänische Zwangsarbeitslager Bremersholm. Snaefridur selbst hat ihren Arnas nie bekommen, vielmehr endet sie als Ehefrau eben jenes schleimigen Pfarrers, der ihr ein Leben lang als „ewiger Freier“ den Hof gemacht und den sie stets verachtet hat. Hreggvidsson wiederum wird dank seines mächtigen Beschützers Arnaeus aus dem Lager befreit. Dessen edles Lebenswerk jedoch, das Zusammenführen der ältesten isländischen Literatur, wird durch den großen Brand in Kopenhagen zunichte gemacht. Das nüchterne Ende zollt dem Schelmenroman auf resignierte Weise Tribut und findet einen stimmigen Ausgang aus den Verwicklungen, die der Autor über viele Jahre seines Lebens gesponnen hat.
Ein Blick in das Nachwort des Übersetzers der Ausgabe von 2011, zum 90. Geburtstag des Autors, erhellt mehrere Zusammenhänge, die das Buch noch weiter erhöhen. Vom ersten zum dritten Teil hin verschiebt sich die Thematik zunehmend vom individuellen Schicksal einer Figur zum politischen Schicksal des Landes. Da Island 1944 von Dänemark unabhängig wurde, hatte das Buch bei seinem Erscheinen eine besondere Aktualität für das isländische und dänische Publikum. Es ist jedoch seinen literarischen Qualitäten zu verdanken, dass es auch beim Weltpublikum ein so beliebter Erfolg wurde.
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