DIE WELT IM RÜCKEN
Joachim Meyerhoff betritt die Bühne leise, während die Zuschauer noch ihre Plätze suchen, man bekommt es kaum mit, bis er plötzlich an einer Tischtennisplatte mit einigen Zuschauern ein paar Ballwechsel auf der leeren Bühne hinlegt. Schon das ist kein ordentliches Spiel, da wird getrickst, der Mann spielt nach eigenen Regeln.
Der Abend DIE WELT IM RÜCKEN unternimmt den gar nicht naheliegenden Versuch, diesen autobiographischen Roman des Prosa- und Theaterautors Thomas Melle über seine bipolare Erkrankung in Theater zu verwandeln. Sehr kurzfristig war es dem Deutschen Theater noch gelungen, die Inszenierung als „Vorglühen“ zu den Autorentheatertagen aus Wien einzuladen.
Der Roman hat durch die hohe persönliche Wahrhaftigkeit, den offenbaren Kampf, den er den Autor gekostet hat, sowie die literarische Meisterschaft, mit dem ihm das persönliche Anliegen gelungen ist, 2016 von sich reden gemacht, als er auch zum Deutschen Buchpreis nominiert wurde.
Nach seinem sportlichen Einstieg behält Meyerhoff die hohe körperliche und innere Spannung bei, die für den Zustand der Hauptfigur charakteristisch ist. Sichtlich schweißtreibend ist die Darstellung der harten Arbeit des Bipolaren, dem die Welt nicht mehr einleuchtet und der in äußerster Verzweiflung darum ringt, sich einen Reim auf sie zu machen, und sei er noch so absurd. Der Versuch bleibt heikel, hat sich doch Melle in diesem Text sehr bewusst an den Stellen exponiert, die – der Text wiederholt es und muss es mehrfach sagen, damit man die Dimensionen wirklich begreift – aufs Äußerste mit Scham und Pein besetzt sind. Umso mehr muss dem Team – Jan Bosses Regie, der Dramaturgie von Gabriella Bußacker, Kathrin Plaths Kostümen, der Bühne von Stéphane Laimé, dem Licht von Peter Bandl – größte Hochachtung gezollt werden. Denn es funktioniert. Vor allem zeichnet sich die gesamte Inszenierung, am unmittelbarsten die meisterhafte Darstellung vom Joachim Meyerhoff, durch einen ausgezeichneten Respekt vor dem Text und dem heiklen Gegenstand des Abends aus. Schon Melles Text ist hervorragend gebaut und macht die bodenlose innere Schwärze („Schwarz kann immer noch schwärzer werden“) durch einen finsteren Humor sowie auch sachliche Erläuterungen zugänglich und in hohem Maße als Erlebnisbericht aus der Dunkelkammer der Seele sowie des entsprechenden gesellschaftlichen Bereichs erhellend. Diesen Humor finden wir auf angemessen bescheidene, intelligente Weise sowohl im bedachten Spiel, aber auch in der Bildlichkeit, die die Absurdität der bipolaren oder, um den von Melle bevorzugten Begriff zu verwenden, manisch-depressiven Erkrankung weithin leuchtend sichtbar macht, so dass die riesige, leere Bühne – immer auch der einsame Innenraum der Hauptfigur – gefüllt wird mit dessen wahnsinnigen Aktionen und namen- und formlosen Gebilden, die wenigstens ansatzweise, in jedem Fall eindrücklich den fassungslosen inneren Zuständen Gestalt verleihen.
Bemerkenswert ist dabei der scheinbare Widerspruch zwischen der ausgiebig beschriebenen totalen, buchstäblichen Exzentrizität des Kranken und der gefassten Erscheinung der Inszenierung. Es hätte viel Raum gegeben für unmittelbare Abbildung des manischen Über-die-Stränge-Schlagens des Protagonisten, für Klamauk. Aber dafür ist Melles Text zu intelligent. Um ein Spektakel ging es nicht, vielmehr will der Text den Moment der Auflösung des Sinns in der Welt verstehen und nachvollziehbar machen. Insbesondere das Musik- und Tonkonzept der Inszenierung (Arno Kraehahn) folgt dem und zeichnet sich aus durch äußerste Sensibilität und Zurückhaltung. Musik ist zentral für Melle, „Musik öffnet immer sofort den Weg ins Abstrakte“, sie markiert wichtige Stationen seines Lebens und garantiert besondere Dynamik. Jenseits und gelegentlich diesseits der Grenze der Wahrnehmbarkeit schleichen sich die Titel, die Effekte nachhallender Tischtennisbälle, Stimmen und Geräusche in unser Ohr wie zufällige Geräusche von draußen oder nebenan. Durch präzise Kenntnis und feingetunten Einsatz ihrer Mittel erhebt die ganze Inszenierung den Zuschauer zu einem geschätzten Gegenüber auf Augenhöhe, dem viel zugetraut und kaum etwas zugemutet wird.
Wenn einer Thomas Melle persönlich kennt und zum Beispiel bei der Lesung von Auszügen aus dem Roman (der es nämlich doch ist) im Berliner Frannz-Club erlebt hat, dann wird der Autor durch die Darstellung Meyerhoffs hindurchscheinen, und das ist gut so. Denn ohne den Respekt vor dem Gegenstand und dem Versuch des Autors, sich zu offenbaren und mit diesem Werk sein krankheitsbedingt komplett entgleistes Leben wieder in eine würdevolle Selbstbestimmtheit zu bringen, kann der an sich abwegige Versuch, diesen Text auf die Bühne zu bringen, nicht ohne Unbehagen gelingen.
Das Publikum im vollständig ausverkauften großen Saal des Deutschen Theaters hat die dreistündige Meisterleistung mit Anteilnahme und Gefallen erlebt. Die stehenden Ovationen bei den sicher 10 Vorhängen sind nicht anders als frenetisch zu nennen.
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