1-100
In den längst vergessenen Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat Peter Greenaway einige Filme gedreht, die mich ungeheuer beeindruckt haben, darunter auch DROWNING BY NUMBERS, der sich – wie die übrigen dieser Filme – durch eine möglicherweise auch für die Epoche generell prägende Beharrlichkeit ausgezeichnet hat. Greenaway hat diesem intensiven Film mit Michael-Nyman-Musik gleich noch ein Buch hinterhergeschickt, FEAR OF DROWNING BY NUMBERS RÈGLES DU JEU, in dem er die innewohnenden Prinzipien erläutert:
Throughout the film Drowning by Numbers, there runs a numbercount of 1 to 100 which serves as an incidental and ironic structure against wich three women can drown their husbands.
Gleich zu Anfang des Films unterhalten sich eine der Frauen und das Seilspringende Mädchen:
I’m counting the stars. – There are more than a hundred. – I know. – Why did you stop? – A hundred is enough. Once you’ve counted a hundred, all the other hundreds are the same.
Alles ist Spiel. Alles unglaublich fantastisch.
Bernhard Studlars IPLAY erinnert mich an Greenaways Film und Buch. Alle drei haben gemeinsam, dass sie von einer Nummerierung von 1 bis 100 durchzogen sind, auch wenn sich die Vorzeichen geändert haben. Gekommen (und gegangen) sind mehrere andere Epochen, Beharrlichkeit oder auch Verbindlichkeit ist im Zeitgeist abhanden gekommen, Flexibilität, Mobilität heißen die Parolen der Stunde. Geblieben ist die Notwendigkeit von Struktur in künstlerischen Werken. Aber Struktur in der Literatur (auch der dramatischen) bleibt ein künstliches Konstrukt, wieso also diese Notwendigkeit nicht total entkleiden, ihr die Transparenz verleihen, die man sich auch von der Politik und Finanzwirtschaft wünscht, und auf ein notwendiges Minimum reduzieren?
100 „Apps“ (wie die Zahlen im Film von Peter Greenaway) führen im Stück von nirgendwo nach nirgendwo (jedenfalls nicht zum Tod durch Ertränken), keine Personen handeln, keine Handlung bindet Bedeutung. Auch der Erzähler verschwindet, es bleibt – wie der Autor im Vorwort sagt – lediglich der Text. Angenehm leichtfüßig vermeidet Studlar das, was ich immer wieder wie zwangsweise aufsuchen muss und nicht wegkomme von Personen, von Handlung, vom zwanzigsten Jahrhundert. Ein poetischer Blick in die (sicher urbane) Welt („Scheiß Natur“), von einem Klappstuhl auf dem Gehweg vielleicht, vom getaggten Sitz in der Bahn, von der Ampel, an der Gesprächsfetzen anderer Wartender aufgeschnappt werden.
Der Begriff „App“ für die extrem übersichtlichen, oft auch nur einen Satz umfassenden Texteinheiten suggeriert eine Nutzanwendung, die die Texte selbst natürlich verweigern (wie auch der Autor im Nachwort). Wozu soll man einen solchen Text verwenden können? Welche zielgerichtete Nischenfunktion könnte so ein Satz, ein Verweis auf eine fiktive URL, eine Parole haben? Eher schon entspannt das Gespinst die sich selbst wichtig nehmende Theatermaschine: ganz ruhig, du musst nicht immer so wild herumbedeuten, das ist schon in Ordnung so, lass mal. Diese Transparenz ohne Kohärenz (auf den ersten Blick jedenfalls) wirkt befreiend und inspirierend, nimmt ihr das, was man goetzsch Bedeutungsstress nennen könnte. Man möchte mit diesen handlichen Brocken spielen, die die poetische Qualität der Texte bewahren, ohne sie mit einer Bedeutung zu be- oder überfrachten, die über sie selbst hinausgeht. Dieser Effekt von IPLAY straft meine mehr Bemühungen als Überzeugungen (wovon ist man schon überzeugt) Lügen, dass ein Text poetischer und „besser“ weil gehaltvoller wird, wenn seine spezifische Dichte im poundschen Sinne erhöht wird, also: mehr Bedeutung auf weniger Text gleich Poesie. Dass Reduktion als Mittel nicht nur zu Schwere durch Entfernung von Überflüssigem, sondern auch zu Leichtigkeit durch entstehende Freiräume zum Einströmen von Luft (beim Vorlesen: Atem) führen kann, zeigt dieser Text.
Die Aufforderung zur kreativen Teilnahme ist explizit: „Greifen Sie ein, mischen Sie neu ab, geben Sie dazu”. Von der Digital- und Funktionalwelt zitiert Bernhard Studlar auch den Open-Source-Gedanken, den ich bisher nur bei Charles Mee kennengelernt habe (es gibt gewiss noch ein paar andere): ergänze und speise ein in die Textwolke dieses Stücks auf dem Weg von gewesenen zu kommenden Produktionen. Hier auch der sehr schöne Gedanke, der den Blick aufreißt weg von dieser einen Produktion, in der eine Zuschauerin oder ein Zuschauer den Worten begegnen wird, hin auf den Weg, den so ein Text hinaus aus dem Autorenkopf bis auf (hoffentlich) mehrere und unterschiedliche Bühnen in Regie- und schließlich Schauspieler- und schließlich Zuschauerköpfe hinein beschreitet. An irgendeinem dieser Punkte erwischen wir den Text und er uns.
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