Barockoper übersetzen
Fünf Tage verbringen Yanik Riedo und ich im Übersetzerhaus Looren im Rahmen des Wochenmentorats, einer Nachwuchsförderung des Hauses. Yanik bringt sein Übersetzungsprojekt mit, eine kurze Barockoper mit dem spektakulären Titel Chrononhotonthologos von Henry Carey aus dem Jahre 1734. Beim Titel The Most Tragical Tragedy That Was Ever Tragedized By Any Company Of Tragedians fängt der Spaß erst an, der dann von König Chrononhotonthologos sowie Figuren mit überwältigenden Namen wie Aldiborontiphoscofornio vorangebracht wird. Das Stück selbst ist ein wirklicher Fund und wirft mich in unbekannte Gefilde. In den Wochen vor dem Mentorat versuche ich, zumindest einen ersten Überblick über die Umstände dieser Barockzeit in England und auch in Deutschland zu bekommen und bin verblüfft über diese Periode, in der es in Deutschland zumindest noch kein nennenswertes Theaterwesen gab. Bekanntermaßen litt die deutsche Intelligentsija derart unter der Eifersucht auf namentlich die französische Kultur, aus der so viele Dramen importiert wurden, ohne dass es deutsche Theaterstimmen von auch nur annähernder Qualität gab, dass man bemüht war, eine deutsche Kulturnation mit einem System deutscher Nationaltheater zu formen, die deutsche Stücke in deutscher Sprache zeigten. Das deutsche Theaterwesen lebte von Übersetzungen und von den seit einem halben Jahrhundert in Deutschland sehr erfolgreich herumreisenden englischen und italienischen Theatertruppen, „Comedians“.
Chrononhotonthologos ist ein Nonsense-Stück, aber auch eine politische Satire, die auf Königin Caroline und ihren Liebhaber Robert Walpole und den König George II. abzielte. Alles geschieht sehr rasch in höchst dramatischen, spektakulären Szenen, in denen Kriege so schnell beendet sind, wie sie beginnen und Emotionen zu Extremen auffliegen, ehe sie umgehend verpuffen. Zur rasanten Handlung: Das Reich wird von den Antipoden – die folgerichtig andersherum funktionieren, nämlich auf den Händen laufen – überrannt, aber keine Sorge: Chrononhotonthologos verscheucht sie durch seinen schieren Blick. Die Königin Fadladinida verguckt sich aber in die gefangene Antipodenmajestät, die jedoch, kaum im Gefängnis vernascht, auch schon wieder von der Bildfläche verschwindet.
Darüber hinaus gibt es einige Tänze und Lieder, und die Handlung lässt an textfreien Stellen auch andere, wahrscheinlich artistische Aktionen vermuten. Gleichzeitig nimmt der Text auch vorherrschende zeitgenössische Theaterformen wie die aufkommende Theatermaschinerie aufs Korn. Das Stück ist in Pentametern verfasst und weist sehr viele Passagen mit Endreimen auf. Formal ist das Stück also gleichzeitig ziemlich kurz, aber auch ein praller Rundumschlag.
Noch etwas fällt ins Auge und macht den Text zu einer Perle: Yanik nimmt das vorweg, was heute als non-binäre Identitäten und nicht-heteronormative Sexualpräferenzen bezeichnet wird. Frauen wünschen sich, Männer zu sein, während sie andere Frauen lieben. Mehrfachbeziehungen werden praktiziert, die Ehe als Institution für gescheitert erklärt.
Auf diesen Eigenschaften liegt denn auch Yaniks Fokus, der unmittelbar die Übersetzung betrifft. Eine deutschsprachige Fassung gibt es offenbar bisher nicht. Yanik legt zunächst eine Fassung vor, in der vermittels genderneutraler Pronomen und Umbenennungen vieler Figuren und vor allem ihrer Titel (z. B. König/Königin à Majestät) jegliche Festlegung auf ein Geschlecht verschwindet. Immerhin heißt das Reich im Stück – geradezu unglaublich – Queerumania. Die Majestäten heißen bei Yanik Chrininhitinthiligi und Fadladinidi.
Jeden Morgen arbeiten wir im großen Raum in Looren mit Blick durch die Glasfront auf das zunächst neblige Tal über dem Zürisee. Während wir uns mit dem guten mitgebrachten Entwurf befassen, geht es auch darum, das Versmaß genau einzuhalten. Yanik findet hier sehr rasch wirklich lustige Lösungen, die den Text mit Pentametern und Reimen zum Strahlen bringen. Dann sind immer wieder einzelne Begriffe wichtig, die die Verhältnisse der Figuren zueinander, ihre jeweiligen Gemütszustände oder schlicht das Informationsmanagement für das Publikum betreffen. Das ist sehr kleinteilige Arbeit, doch Yanik hat bald den Bogen raus und arbeitet zunehmend eigenständig. Die buchstäblichen wie auch die sprichwörtlichen Nebel lichten sich in den letzten Tagen unseres Aufenthaltes, der Text und auch der Ausblick auf den Zürisee und die fernen Berge erschließen sich immer mehr. Wir kommen darauf, dass der Vielfalt und auch dem Stück mehr gedient ist, wenn nicht alles über einen Kamm geschert und jegliche geschlechtliche Identität aus dem Stück verschwindet. Das ist eine dramaturgische Entscheidung für die Inszenierung und spiegelt sich in der Übersetzung wider. Gemeinsam überprüfen wir den Text immer wieder auf inhärente Stimmigkeit und stoßen dabei auf immer neue Überraschungen, die unbedingt Lust machen, den Text auch zu inszenieren. Er ruft geradezu nach großer Dragshow mit allen Registern des Sexy-Burlesken. Ich kann es nicht erwarten, ihn auf der Bühne zu sehen.
Denn das ist neben der Übersetzung der zweite Teil der Arbeit: Wie stelle ich eine freie Theaterproduktion auf die Beine? Welche Schritte muss ich gehen von der Teambildung zum Konzept zum Kostenplan zur Antragsstellung?
Mein erster Aufenthalt in Looren beschert mir neben wunderbaren Berg- und Talpanoramen auch die Begegnung mit lieben Kolleginnen und Kollegen, Spaziergängen auf den Bachtel und Wiedersehen mit einigen Zürcher Freund*innen und Kolleg*innen. Unter anderem begegne ich endlich Dipika Arwind, deren PHANTASMAGORIA ich letztes Jahr übersetzt habe und das beim Drei-Masken-Verlag seine DEA erwartet. Die knappe Woche macht unbedingt Lust auf mehr: Mehr Vermittlung, mehr Unterrichten, mehr Looren, mehr Berge, mehr Theaterübersetzung.
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