Sivan Ben Yishai: Original und Übersetzung
von Henning Bochert
Henning Bochert: Sivan, bei der Übersetzung deines letzten Stücks ins Deutsche haben wir eng zusammengearbeitet. Der Titel ist vorerst noch der englische: YOUR VERY OWN DOUBLE CRISIS CLUB. Das Stück entstand 2016 beim Workshop IN ZUKUNFT III des Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben (NIDS), der am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel stattfand.
Im Stück spricht eine Stimme über die kriegerische Zerstörung ihrer Stadt, über Gewalt, Unterdrückung, Flucht und Exil. Welches Verhältnis hast du zu Israel?
Sivan Ben Yishai: Israel steht kurz vor der Explosion. Die Atmosphäre, die Intensität der Leute ist für mich schwierig auszuhalten. Als ich zuerst nach Berlin kam, fühlte es sich an wie eine Utopie. Inzwischen frage ich mich, ob die schützende Haut, die mir hier gewachsen ist, wieder verschwinden wird. Mein letztes Stück (I KNOW I’M UGLY BUT I GLITTER IN THE DARK) handelte von einem Israeli, der nach Berlin kam und in eine Art innere Emigration verfiel. Er liegt in einem organischen Schlafstuhl, der bereits mit ihm verwachsen ist, und lebt sein Leben durch das Internet. Suchen wir nach Blasen, wenn wir unsere Heimat verlassen, um dann unablässig enttäuscht zu werden? Ein entscheidender Faktor ist die Sprache. Kann man, wenn man die fremde Sprache wirklich gründlich versteht, den Ort immer noch so lieben?
Vor ein paar Tagen sind meine Mutter und meine Schwester nach ihrem Besuch hier nach Israel zurückflogen, und ich habe zwei Tage lang geweint. Nach dem ersten Jahr hier war meine eigene Rückkehr nach Israel und dann nach Berlin eine sehr unsichere Erfahrung. Furchterregend. Ich hatte überhaupt keine Wurzeln. Jetzt fühle ich mich sicherer. Ich habe ein Netzwerk von Menschen und Projekten, das mich hält.
Meine Sprache hat sich verändert, als ich nach Deutschland kam. Ist es mein künstlerischer Reifungsprozess, oder ist es eine Riesenveränderung, die stattgefunden hat, als ich meine Sprache verlassen habe? Bevor ich herkam, habe ich alle meine Stücke auf Hebräisch geschrieben, und sie waren für die Bühne geschrieben (for the stage). Man konnte das Stück nur verstehen, wenn man sich die Inszenierung ansah.
Henning: Weil du sie selbst inszeniert hast. Du hast eine Produktion gemacht, ein Teil davon war der Text. Wieso schreibst du auf Englisch?
Sivan: Als ich nach Deutschland kam, übernahm die Sprache die Führung. Wie kam das? Wieso haben die Worte plötzlich übernommen? Nicht nur das: sie übernahmen die Führung auf Englisch. Das war eine praktische Frage. Ich habe am Westfälischen Landestheater gearbeitet, Deutsch ging gar nicht, also habe ich auf Englisch geschrieben.
die Sprache ging in Führung
Henning: Du hättest ja theoretisch auch einen hebräischen Übersetzer finden können.
Sivan: Während der Arbeit am Radialsystem habe ich auf Hebräisch geschrieben, und der Performer und Koregisseur Amit Jacobi hat gesagt, Sivan, guck dir den Text an. Das kannst du nicht übersetzen. Du bist gar nicht hier, du bist dort. Er meinte meine grundlegende Distanz zur tatsächlichen Situation, und er hatte Recht. Ich habe sehr tiefgreifend mit der Sprache gearbeitet, mit ihren Wurzeln, ihren Formen. Klar kann man das übersetzen, sagte er, aber nicht wirklich. Die grundlegende Idee, von der aus du schreibst, wird sich nicht mitteilen.
Henning: Man schreibt immer für ein Publikum, das ein gewisses Verständnis dessen hat, worüber man schreibt, mit dem man im weitesten Sinn eine gemeinsame Sprache hat. Das deutsche oder internationale Publikum hier in Berlin verfügte nicht über dein Verständnis der hebräischen Sprache und ihren Kontext, so dass das Stück selbst für das hiesige Publikum nicht verständlich wäre.
Sivan: Du musst hierherkommen, meinte er, komm hier an! Plötzlich verstand ich, dass die Einschränkung ein psychologisches Problem ist und ich damit umgehen muss. Plötzlich begriff ich, Ach so, das ist das Thema. Dass ich nicht über alle Wörter verfügte, dass ich nicht so frei mit ihnen spielen konnte, genau das wurde seitdem mein neues Spielfeld. Meine große Inspiration hier ist Samuel Beckett. Er hat gesagt, das Schreiben beginnt da, wo man seine Muttersprache hinter sich lässt. Für mich stimmt das ganz buchstäblich. Ich habe erst zu schreiben begonnen, als ich meine Muttersprache hinter mir ließ. Ich habe so viele Ideen, so vieles hat sich für mich geöffnet, dass ich die andere Seite dieses Spielfeldes noch gar nicht erkennen kann. Alles, womit ich zu kämpfen habe, befindet sich hier. Fremd sein, die Differenz in mir selbst, die Distanz zwischen mir und meiner Sprache und dem Publikum. Die Trennung meiner inneren Kultur – meine Kultur wurde ja zu einer inneren Kultur – von der äußeren Kultur. Das ist hier passiert. Dafür bin ich sehr dankbar.
meine Kultur wurde zu einer inneren Kultur
Henning: Die Übersetzungsarbeit war bei diesem Stück etwas anders als gewöhnlich. Was ist passiert, nachdem du das Stück auf Deutsch gelesen hast oder dir hast vorlesen lassen?
Sivan: Ich habe es sieben Mal gelesen, die ganze Nacht. In Israel sind schon früher Texte von mir vom Hebräischen ins Englische übersetzt worden und natürlich habe ich an den Übersetzungen mitgearbeitet, das gehört zu meinen Aufgaben, wenn ich kann. Ich habe sie gelesen und gesagt, hier aufpassen, dieses Wort, Achtung, hier aufpassen, und das war’s. Wieso war deine Übersetzung so persönlich für mich? Ich glaube, weil du zu meinem Mund wurdest. Wirklich, so hat es sich angefühlt. Ich kämpfe mehr mit meiner Vorstellung, in jedem Text, den ich auf Deutsch sage, zur gesamten Gesellschaft zu sprechen. Ich bin so abhängig von meiner Sprache, dass ich es einfach nicht ertrage, Fehler zu machen. Und plötzlich habe ich die Möglichkeit bekommen, zu einem Publikum aus deutschen Muttersprachlern zu sprechen. Ich habe mich auf Deutsch gelesen. Genau so würde ich es schreiben.
Henning: Das ist schön!
Sivan: Ich dachte, was ist hier los, was macht der da? In dem Moment wurde es ein persönlicher Umgang mit der Sprache, mit ihrem Klang, mit der Tatsache, dass ich immer noch sehr, sehr weit davon entfernt bin. Auch der Titel hat sich unterdessen geändert: ein übersetztes Klagelied mit einem störenden Akzent, das ist wie ein Untertitel. Das war ich selbst, vor mir mein eigener Text, aber es war deiner. Dem Publikum ist vollkommen klar, dass ich nicht die Sprecherin bin, dass ich in eine Form vermittelt werde, die sie verstehen – in ihre Sprache. Durch diese ungeschriebene „Synchronisations“-Vereinbarung bist du dort bei mir auf der Bühne. Selbst jetzt, in diesem Interview spreche ich Englisch, aber man liest deine deutschen Worte. Und wenn man mich den Schwänze-Monolog lesen hört und sieht, wie ich mit der Aussprache kämpfe und schwer gegen einen Rhythmus arbeiten muss, der nicht meiner ist, dann ist das paradox. Und genau deswegen ist es so schön, wenn ich das lese, oder eben jemand mit einem störenden Akzent. Denn dann gibt es den großen Clash zwischen dem Rhythmus des Textes und dem, was der Text verlangt. Zwischen der neuen Sprache, die zugleich als Mittel und als Mauer wirkt, und der Einschränkung der Darstellerin. Wenn jemand das perfekt auf Deutsch spricht, dann wird der Text schwächer. Viele seiner Qualitäten gehen verloren.
Henning: Du möchtest also jemanden auf der Bühne, der nicht muttersprachlich deutsch ist?
Sivan: Das steht für mich im Untertitel: ein übersetztes Klagelied mit einem störenden Akzent.
Henning: Eine richtige Anweisung ist das nicht. Etwas fehlt noch.
Sivan: Vielleicht sollte es heißen: Ein übersetztes Klagelied für Performer mit einem störenden Akzent.
Henning: Ich glaube, wir haben gerade etwas herausgefunden.
Sivan: Hier treffen verschiedene Kräfte aufeinander: Die Kraft des Textes, die Kraft der Übersetzung und die gebrochene Fähigkeit der Darstellerin. Die ich bin. Im Kontext unseres Dialogs ist das mein Beitrag, mein Kampf, denn ich bin zwar klar und schnell, aber dennoch eingeschränkt und präziser Aussprache nicht fähig. Es gibt eine Stelle, die mich jedes Mal umbringt: sie treten ihn im Namen Gottes, und sie treten ihn im Namen der Stadt, und sie treten ihn ihm Namen der Liebe und sie treten ihn im Namen des Premierministers, im Namen des Premierministers und seines brennenden-königlichen-riesen-Premiumschwanzes. Bringt mich um, die Stelle. Aber darin liegt die Stärke, ein Teil der Qualität des Textes. Dieser Kampf ist mittlerweile das Wichtigste im Text.
Henning: Nach der Lektüre der Übersetzung von CRISIS CLUB hast du noch einmal vieles geändert.
Sivan: Ich weiß noch, wie ich den Text in der Nacht immer wieder gelesen habe. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ihn in meiner Muttersprache zu lesen. Keine Ahnung wieso. Ich musste viele Wörter nachschlagen, z. B. „in der Falle”. Ich wusste nicht, was das heißt, „in der Falle“. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich hätte einen Spiegel erhalten. Ich kannte viele Wörter noch nicht, die ich jetzt kenne, dank dir, dennoch war das ein sehr ausdrucksstarker Spiegel für mich, der Rhythmus, einfach wie du meine Ideen interpretiert hast, mein Englisch. Am sichersten fühle ich mich, wenn ich den Text selbst vorlese. Dann hört man ihn so, wie ich es möchte. Aber als Autorin möchte ich natürlich, dass man versteht, wie die Worte gemeint sind, ohne dass ich den Text spreche. Was übrigens bei deiner Übersetzung passiert ist, die Übersetzung hat ein sinnliches Element hinzugefügt. Weißt du noch, wir haben auch über einzelne Worte gesprochen, um rauszufinden, was richtig wäre. Das hat eigentlich alles verändert.
Henning: Wir haben mehr als üblich über einzelne Worte diskutiert und darüber, worauf dieser Satz, dieser Abschnitt abzielt, weil es ja eine doppelte Interpretation war. Und dann ist noch was passiert. Du hast Text hinzugeschrieben.
das Original ist jetzt die deutsche Übersetzung
Sivan: Bei unserem ersten Treffen hast du mich gefragt, ob ich englische Muttersprachlerin wäre. Ich habe gesagt, nein, da hast du gesagt, Wenn dir irgendwas im Englischen unklar ist, dann ruf an. Ich dachte erst, wie kann man eine Schriftstellerin fragen, ob sie etwas nicht versteht, es ist ja mein Text? Dann dachte ich, Henning hat etwas sehr Wichtiges verstanden. Du würdest den Text genauso behandeln wie ich. Du hast praktisch erklärt, dass die Sprache, in der ich jetzt zumeist schreibe, nicht mehr ist als eine Krücke, nicht eigentlich Sprache, sondern ein bloßer Schatten davon. Auf Englisch ist das ein Geist, der einen Körper brauchte. Er ist für ein deutsches Publikum, nicht für ein europäisches, nicht für ein israelisches. Mit meinem Kampf gegen deine Worte habe ich die tiefen Qualitäten des Textes verstanden. Mit der Übersetzung ins Deutsche bekam der Text einen Körper. Ich arbeite jetzt nicht mehr mit dem englischen Original, das Original ist deine deutsche Übersetzung. Das ist irre. Ich habe es auf Englisch geschrieben, aber ich traue dem Englischen nicht mehr, das ist mir jetzt sehr fern.
der Text war ein Geist, der einen Körper brauchte
Henning: Du hast den Text schon öffentlich gelesen?
Sivan: Im Pakt Zollverein und bei der Summer School des NIDS in Bozen. An diesem Punkt hat sich das Stück grundlegend verändert. Da kam der Teil hinzu, der sich direkt ans Publikum wandte, meiner Ansicht nach der wichtigste im Stück. Wo es heißt: Vielen herzlichen Dank übrigens, dass wir uns um eure Förderungen bewerben dürfen. In unserer Stadt (…) gibt es keine Kunstprojekte. Die Künstler und die Bienen sind zuerst gestorben. Die Künstler hat man auf offener Bühne erschossen, weiße Flaggen in ihre Ärsche gesteckt. Diese Abschnitte resultierten direkt aus dem Körper, der Sprache, dem Verständnis, meiner Situation auf der Bühne, meiner Entfremdung von den Worten und dem Umgang damit.
Henning: Hast du das Stück schon von jemand anderem als dir selbst gelesen gehört? Auf Deutsch?
Sivan: Nein. Ich freue mich sehr darauf, es auf Deutsch zu hören. Ganz ehrlich, für mich ist es total natürlich, wenn mich jemand zu einer Lesung einlädt. Ich habe oft Lampenfieber. Bei diesem Text aber nie. Der Text ist beileibe kein sicheres Terrain für mich, im Gegenteil. Aber er enthält genau den Widerspruch, den ich brauche. Er befindet sich genau da, wo ich stehe. Wenn ich auf der Bühne sitze und die ersten Worte spreche: Es ist nicht schwer zu beschreiben, was ich sah, als ich den Kopf umdrehte und zurückblickte – genau das brauche ich, um da zu stehen und mit den Worten zu kämpfen.
Henning: Inzwischen hast du schon wieder ein neues Stück geschrieben.
Sivan: Es heißt THE STORY OF LIFE AND DEATH OF THE NEW BEW WEW WOOPIDU JU. Diesmal ist die Sprache noch grundlegender, aber mehr wird nicht verraten.
Henning: Ich bin gespannt.
22.09.2016
Sivan Ben Yishai, geboren in Tel-Aviv, lebt seit 4 Jahren als Theaterregisseurin und Autorin in Berlin. 2015 inszenierte sie zwei eigene Stücke: „RD LND IYKWIMAITYD im Rahmen des „Future Forums” der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum und I KNOW I’M UGLY BUT I GLITTER IN THE DARK im Radialsystem V Berlin, im Rahmen des ID Festivals. Sie leitete Workshops in Leipzig, Warschau, Berlin und ist Mentorin von Performance- und Tanzstudierenden des „Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz” (HZT) Berlin und unterstützt sie bei ihren Abschlussprojekten.
Ende 2013 hat sie beim „Assitej”-Wettbewerb in der Kategorie „Beste Show des Jahres“ gewonnen. Sie wurde zugleich als „Beste Stückeschreiberin des Jahres” und als „Beste Regisseurin des Jahres” für dieses Stück ausgezeichnet. Ihr Stück „Never Ever Ever” (Ü: Natalie Feinstein) hatte im September 2014 an der „Israelischen Bühne” in Boston Premiere.
Ben Yishai studierte Theaterregie sowie Schreiben für das Theater an der Tel Aviv-Universität und in der Schule für Visuelles Theater Jerusalem. Ferner hat sie weitere praktische Ausbildungen am „Nissan Nativ Acting Studio” Tel Aviv und am Zentrum für Improvisationstheater des „Action Theatre” Tel Aviv gemacht.
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