Andrea Stolowitz: EIN JAHR IN BERLIN
Dramatische Ästhetik in den USA und in Deutschland
von Andrea Stolowitz und Henning Bochert
Von Sommer 2014 bis Sommer 2015 war Andrea Stolowitz Hausautorin am ENGLISH THEATRE BERLIN | International Performance Arts Center in Berlin und hat dort ihr autobiografisches Stück SCHLÜTERSTRASSE 27 recherchiert und geschrieben. Im Oktober 2014 war Henning Bochert ihr Gesprächspartner bei einer öffentlichen Diskussion von Drama Panorama: Forum für Übersetzung und Theater e. V., wo das Stück ITHAKA in Bocherts deutscher Übersetzung in szenischer Lesung vorgestellt wurde. Im Verlauf des Jahres sprachen Henning und Andrea immer wieder über ihre jeweiligen Theaterlandschaften und Arbeitsumstände. Dieser Dialog spiegelt Teile ihrer Gespräche wieder.
HENNING: Andrea, nach einem Jahr in Berlin bist du in diesem Sommer 2015 nach Portland zurückgekehrt. Als Hausautorin am ENGLISH THEATRE BERLIN | International Performing Arts Center hast du an deinem neuen Stück SCHLÜTERSTRASSE 27 gearbeitet. Außerdem hast du das ganze Jahr über Theater in Berlin gesehen. In unseren Gesprächen haben wir wieder festgestellt, dass sich die Theaterlandschaften in unseren beiden Ländern in vielen Punkten unterscheiden. Die Situation für Theaterautor*innen scheint sich in beiden Ländern zu verändern.
ANDREA: Ja. Einfach gesagt scheint es, als ob Autor*innen in Deutschland sich wieder mehr für das Geschichtenerzählen und für realistischere Figuren interessieren. Von Autor*innen wurde das als das „britische oder amerikanische“ Modell bezeichnet. Das bedeutet keine Rückkehr zum Naturalismus an sich, eher eine Bewegung weg vom Regisseur/Autor-Modell, das in den letzten zwanzig Jahren im deutschen Theater so beliebt war, wo die Regie eine Bedeutungsebene über den Text gelegt hat und die/der Autor*in lediglich die Aufgabe hatte, den Text zu liefern. Diese Arbeitsweise hat den Autoren einige Aspekte des Erzählens genommen, glaube ich, und die würden sie gern zurückhaben.
In den USA kämpfen wir Dramatiker*innen darum, von der naturalistischen Form, dem narrativen Geschichtenerzählen und realistischen Figuren wegzukommen. Wir beobachten, wie entwickelnde und experimentellere Gruppen mit Theaterautoren zusammenarbeiten (The Civilians, Hand2Mouth Theatre, Wax Factory) und wie immer mehr Autor*innen expressivere Theaterarbeiten wagen, die nach einer potenzierten Theatralität jenseits des Textes verlangen. Der Naturalismus, den wir geerbt haben, taugt immer weniger zur Beschreibung der komplexen Welt, in der wir leben.
ÖKONOMIE UND ÄSTHETIK
HENNING: Zum Einfluss des Regietheaters auf die deutschsprachige Dramatik kommen wir später. Aber unsere Theaterwelten unterscheiden sich deutlich in ökonomischer Hinsicht. Wie sehr spielt der finanzielle Faktor in deine Arbeit hinein?
ANDREA: Auch wenn die wirtschaftliche Situation für amerikanische Dramatiker*innen sich nach OUTRAGEOUS FORTUNE verbessert hat, leben die meisten immer noch in prekären finanziellen Verhältnissen, und das beeinflusst die ästhetische Qualität unserer Arbeit. Da sich naturalistische Stücke mit wenigen Figuren unter 100 Minuten Laufzeit besser verkaufen, werden wir für sie mehr „belohnt“. Unseren Kampf als Autor*innen könnte man eigentlich auch betrachten als Ästhetik gegen Finanzen.
Noch ein Beispiel: in den USA ist es immer noch übliche Praxis, dass Theater Stückaufträge ohne Produktionsgarantie vergeben. Das ist ein Problem, denn anstatt ästhetische Freiheit zu gewähren, erzwingt das ein vermarktbares Produkt. Die meisten Autor*innen möchten ihre Stücke inszeniert sehen und werden sie in diesem Sinne schreiben. Natürlich gibt es Theater, die Stückaufträge mit Produktionsgarantie vergeben, z. B. das Signature Theater in New York. Wenn man liest, was deren Hausautor*innen so berichten – einfach erstaunlich. Im Grunde können sie mit der garantierten Produktion alles schreiben, was ihnen passt und was sonst nicht geschrieben würde.
HENNING: Für mich klingt es nach Verschwendung, ein Stück in Auftrag zu geben und es dann nicht zu produzieren. Selbstverständlich werden auch von deutschen Theatern Stückaufträge vergeben. Allerdings wird ein Theater schon aus Vernunftgründen das Stück auch produzieren, das es hat schreiben lassen. Warum sollte man sonst eines in Auftrag geben, nicht wahr?
ANDREA: Natürlich. Das ist sowieso das optimale Modell, Stücke mit Inszenierungsgarantie in Auftrag zu geben. Aber da neue Stücke in den USA in der Regel kein Geld einspielen und Theater nicht so satt finanziert sind wie in Deutschland, gibt es bei der Produktion von Auftragswerken eben finanzielle Überlegungen. Jedenfalls habe ich das gehört.
HENNING: Die deutsche Theaterlandschaft besteht auf Grund der vergangenen 250 Jahre aus einem einzigartigen Netz öffentlicher Theater, eher große öffentliche Häuser an zentralen Plätzen der Stadt, repräsentative bürgerliche Kulturpaläste im Gegensatz zu dem ausschließlich feudalen Theater davor. Diese Stadttheater sind üblicherweise mit einem öffentlichen Budget ausgestattet, mit dem sie ein Ensemble und Techniker und einen Repertoirebetrieb finanzieren und Produktionen über einen langen Zeitraum zeigen können anstatt bloß zwei Wochen en suite wie in der Freien Szene. Für junge Autor*innen (die hier tatsächlich jung sind) gibt es also einen fruchtbaren Boden, auf dem sie landen und wachsen können. Darüber hinaus gibt es insbesondere für jüngere Schreiber*innen ein breites System öffentlicher Arbeits- und Aufenthaltsstipendien, später dann Stückaufträge und Preise usw.
Dennoch können wenige der mir bekannten Autor*innen von ihrem Schreiben leben, das hat allerdings nicht zur Folge, dass ihre ästhetische Freiheit durch ökonomische Nöte eingeschränkt wird. In Europa wird vom Theater traditionell erwartet, dass es ein Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung für eine Gesellschaft ist, die über sich selbst nachdenkt. Auch sehr experimentelle Texte sind gerade auf Grund ihrer Form willkommen und finden wahrscheinlich ein Theater bzw. eine*n Regisseur*in mit Inszenierungsinteresse.
ANDREA: Ist das eine Erklärung für eine meiner Beobachtungen in deutschen Theatern? Wenn es für ein breites Publikum offenbar zu experimentell war? Theater als elitäre, intellektuelle Blase? Didaktisch, langweilig, kopflastig?
HENNING: Kunst und Unterhaltung sind in Deutschland dem landläufigen Verständnis nach zweierlei, und wir können von Amerika immer lernen, dass intelligente Kunst tatsächlich unterhaltsam sein kann.
REALISMUS
In den frühen Neunzigerjahren, als die politischen Umstände nach einer neuen Bühnenästhetik verlangten, waren es die Regisseure, die voranstürmten und die künstlerische Freiheit im Theater ausweiteten. Während der Zeit maßgeblichen Regietheaters in den Neunzigern und der performance-orientierten Dekonstruktion in den frühen Nullerjahren übernahmen sie damit eine explizite Autorenschaft. Viele dieser Einflüsse kamen aus den Niederlanden oder von Gruppen wie FORCED ENTERTAINMENT aus England. Die Verschiebung des Fokus weg vom Autoren und hin zu performance-orientierten Faktoren im Theater ist sogar noch älter, aber in den Neunzigern wurde das eine allgemeine Erscheinung.
Für die Dramatiker*innen allerdings schuf das außerordentliche Schwierigkeiten. Häufig sah man als Dramatiker*in seinen Text von nachlässigen oder eigenmächtigen Regisseur*innen stark verändert, eingestrichen oder mit großen Ergänzungen versehen oder mit anderen Werken kombiniert, gelegentlich sogar deutlich abweichend von den Absichten des Originaltextes. Einer der bekanntesten Fälle war der Streit zwischen dem genialen Regisseur Einar Schleef und dem Autor Rolf Hochhuth anlässlich Schleefs Produktion von Hochhuths WESSIS IN WEIMAR am Berliner Ensemble. In der Welt der Autoren war man gespalten: einige meinten, dass Regisseure im Allgemeinen zu häufig zu weit gingen, andere fanden, dass dies eine spannende künstlerische Entwicklung sei und eine echte, positive Herausforderung für ein Theater, das ansonsten der Realität hinterherhinkte.
Dann schrieb Hans-Thies Lehmann sein berühmtes Buch, in dem er Ende der 90er auf diese Entwicklungen zurückblickte und den Begriff des post-dramatischen Theaters prägte; die Theaterwissenschaft ist immer noch nicht darüber hinweg, auch wenn sich aktuell die Vorzeichen in der Theatergeschichte schon wieder ändern. Beispielsweise propagiert aktuell Bernd Stegemann, Dramaturg der schaubühne, eine Rückkehr zum psychologischen Realismus, als ob das möglich wäre. Viele, die der ewig gleichen, nicht psychologischen Spielästhetik müde sind, loben seine leidenschaftliche Sache, während andere seinem scheinbar konservativen Aufruf nicht folgen können.
Das performance-orientierte Regietheater hat die Position der Autor*innen geschwächt, aber spannend ist zu sehen, wie sie jetzt neue Wege finden, mit ihrem Schreiben auf diese Situation zu reagieren.
REGISSEUR*INNEN UND AUTOR*INNEN
HENNING: In Deutschland ist es selbstverständlich, dass jede*r Regisseur*in eine eigene Vision für den Text entwickeln muss, während die Regie in den USA eine viel tiefergehende, rechtliche Verpflichtung hat, sich an den geschriebenen Text zu halten, oder?
ANDREA: Das ist richtig. Und mir gefällt das auch. Ich glaube, die Herausforderung für amerikanische Dramatiker*innen besteht immer mehr darin, ästhetische Überlegungen in den Text einzuschreiben. Kann mein Text eher so etwas werden wie eine Notation für das Theater, und wie sähe das aus?
Ich weiß noch, wie uns in den Neunzigern Chuck Mee zwei wichtige Konzepte beigebracht hat: Einmal, dass man sich sehr viel künstlerische Freiheit mit seinem Stück nehmen darf (es vom Naturalismus entfernen kann), sofern man dem Publikum Wegweiser an die Hand gibt, die ihm zeigen, wo im Stück man sich gerade befindet. Das zweite Konzept bestand darin, dass wir Autorinnen nonverbale Situationen einschreiben können, die wichtige Angelpunkte im Stück sind. Das hat mir insofern die Augen geöffnet, als es bedeutet, dass es für das dramatische Schreiben eine Form jenseits von Text/Szene/Black/Text gibt.
HENNING: Amerikanische Autor*innen bleiben in die verschiedenen Produktionen ihrer Stücke sehr stark involviert. In Deutschland schreibt man sein Stück, und das ist dann auf dem Markt und wird meistenteils ohne weitere Beteiligung der Autor*in inszeniert, außer natürlich im Fall der Uraufführung oder im Rahmen eines Stückauftrags.
ANDREA: Bei der Uraufführung eines Stücks bin ich gern stark an der Inszenierung beteiligt und möchte alleinige Verantwortliche für den Text sein. Der Text bedeutet mir etwas, und ich glaube nicht, dass meine Rolle als Autorin darin besteht, den Text an eine Regie abzugeben, damit diese ihre Sicht darauf durchsetzt oder ihn in einen anderen Bedeutungszusammenhang stellt. Wenn ich einen Text schreibe, enthält er die Sichtweise und Aussage, die ich ergründen möchte. Mir kommt das bei den ersten Inszenierungen eines neuen Stücks meistens merkwürdig vor, wenn die Regie eine Bedeutungsebene zu meinem Stück hinzufügt.
Meines Erachtens ist das etwas anderes als meinetwegen bei einem Stück, das schon ein Klassiker ist und das die Regie speziell beleuchten muss, weil die entsprechende Sichtweise von 1560 oder 1950 nicht mehr von Belang oder Interesse ist oder es bereits so viele Inszenierungen gegeben hat, dass man die Version des Textes von Soundso sehen möchte.
Aber in Amerika befindet sich die/der Dramatiker*in häufig in einer sehr angreifbaren Situation. Kein*e Komponist*in wird in Frage gestellt, wenn es darum geht, warum oder wie sie oder er diese oder jene Form oder Technik verwendet, während in der Mehrzahl der Fälle die künstlerische Integrität von Theaterautor*innen ständig vom Publikum, von Produzenten, verletzt wird, die sagen, sie würden sowieso ihre eigenen Stücke schreiben, wenn sie nur die Zeit hätten.
HENNING: Noch ein Unterschied: ich glaube nicht, dass in Deutschland jemand einem/r Autor*in erzählen würde, wie man das Stück zu schreiben hätte oder wie man es irgendwie „reparieren“ könnte.
ANDREA: Das alles wird in OUTRAGEOUS FORTUNE erörtert, und obwohl das Problem so gut dokumentiert ist, besteht es fort. Natürlich nicht in den beispielhaften Theatern, aber dennoch in überraschend vielen angesehenen Häusern.
HENNING: Zurück zur Ästhetik: Wie stehst du selbst zum Realismus?
ANDREA: Die Ausbildung in den USA folgt der Stanislawski-Methode, bei der ein psychologischer Realismus das Stück voranbringt. Im Grunde schreiben wir Stücke so, dass Schauspieler sie spielen können, und da unser Theaterausbildung so stark zum Naturalismus tendiert, schreiben wir den auch und sehen ihn auf unseren Bühnen. Mit dem Aufkommen stärkeren Avantgarde-Einflusses aus Europa hat sich das natürlich geändert. Nicht nur arbeiten die Autor*innen jetzt mit solchen Gruppen, sie schreiben auch Stücke, die in einer stärker performativen Tradition stehen: Nur weil ich eine Theaterautorin bin, die einen Text mit Hinblick auf eine ganze Geschichte erzählt, folgt daraus nicht, dass dieser in der Ästhetik des psychologischen Realismus verfasst ist. Das fühlt sich für uns hier noch neu an.
HENNING: Deutschsprachige Autoren sehe ich nicht mehr für psychologischen Realismus schreiben. Auch wenn die Schauspielausbildung im deutschsprachigen Raum größtenteils auf psychologischen Ansätzen basiert, gab es in meiner eigenen Schauspielausbildung nicht-psychologische Ansätze. Die ästhetischen Einflüsse der Theateravantgarde, Namen wie Jerzy Grotowski, Tadeusz Kantor, das Objekttheater oder Einflüsse aus anderen Kunstrichtungen wie Musik usw. müssen berücksichtigt werden. In meiner Ausbildung haben wir mit John-Cage-Kompositionen gearbeitet. Sehr befreiend und unterhaltsam. Und spätestens mit Peter Handkes PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG in den 60ern fingen Autoren an, Stücke zu schreiben, in denen keine Figuren mehr vorkamen. Heute sieht man Elfriede Jelineks maßgebliche „Texte für die Bühne“ in ganz Europa. Versuch mal, da so etwas wie eine dreidimensionale Figur zu finden.
FINSTERNIS
ANDREA: Ich glaube, als Autorin, die Text im Hinblick auf eine Geschichte produziert, muss diese im Bereich des psychologischen Realismus verfasst sein. Es ist etwas anderes, ob ich für das Genre des psychologischen Realismus schreiben muss oder ob Regisseure einen Text interpretieren. Ich kann in einem gehobenen Genre schreiben, und die Regie kann trotzdem meinen Text inszenieren. Vielleicht lassen sich die großen Unterschiede zwischen der deutschsprachigen und der amerikanischen Tradition doch überbrücken? Ein herausragendes Stück, das gerade herauskam, als ich in Deutschland war, ist DIE LÄCHERLICHE FINSTERNIS von Wolfram Lotz.
HENNING: Das Stück hast du in Daniel Brunets englischsprachiger Übersetzung mit deinen Studenten gelesen. Wie ist es angekommen?
ANDREA: Sehr, sehr gut. Sie fanden die eingeschriebene Theatralität und Verspieltheit aufregend. Sie waren auf einen philosophischen, langweiligen, deutschen Unsinnsbrocken gefasst – stattdessen ist das eine moderne Geschichte mit moderner Ästhetik.
An diesem Stück war sehr interessant, wie Lotz Platz gelassen hat für die Vision der Regie, ohne dass sein Stück an Stil und Genre verlor. Wenn ein/e Regisseur*in den Text aufmerksam liest und sich darauf einlässt und außerdem in Lotz‘ Manifest hineinliest, kann er oder sie der Umsetzung des Stücks/der Inszenierung, die Lotz in seinem Schreiben fordert, sehr nahe kommen. Dennoch ist das kein psychologischer Realismus. Das eine muss nicht notwendig mit dem anderen zu tun haben.
HENNING: Lotz’ DIE LÄCHERLICHE FINSTERNIS wird als Stück gefeiert, dass eine Geschichte mit ausladender Theatralität erzählt. In seinem Schreiben verbindet Lotz die historischen Veränderungen und die ästhetischen Forderungen, von denen wir sprachen, und er erobert sich wieder die Position des ersten Visionärs im Prozess, ohne jedoch etwas vorzuschreiben. Das Stück ist ein gutes Beispiel für einen Text, der einen Erzählstrang verfolgt, aber eher unter einer thematischen als einer realistischen Logik.
DRAMATURGEN
HENNING: Sprechen wir kurz über Dramaturgen. Im deutschsprachigen Theater sind sie maßgeblich an der Hauptlinie der Inszenierung beteiligt, ihrer Stoßrichtung und den zugrundeliegenden Diskursen. Das schließt auch den formalen Rahmen ein. Wie du weißt, können Dramaturgen von größeren Häusern angestellt sein und mit der übrigen Künstlerischen Leitung die Spielzeit gestalten. In den einzelnen Produktionen arbeiten sie mit der Regie zusammen, wobei ihre Hauptaufgabe die Textarbeit ist, das Erstellen einer Strichfassung, zusätzliches Material für die Probenarbeit finden usw. Diese letztere Funktion erfüllt auch eine freiberufliche Produktionsdramaturgie.
ANDREA: In Amerika spielen Dramaturgen eine weniger zentrale Rolle als im deutschen Theater. Ich würde sagen, wir haben eigentlich keinen kritischen Diskurs über Theater in den USA, der fehlt in der Publikumserfahrung. Da dieses Tätigkeitsfeld in den USA fehlt, fungieren unsere Dramaturgen meist als „Literary Managers” und als Probendramaturgen im Fall von neuen Stücken oder Klassikern auf dem Spielplan, haben aber bei anderen Stücken häufig nicht viel zu tun. Oft spielen sie eine große Rolle bei der Spielzeitplanung, wählen neue Stücke für Premieren aus, sind aber bei anderen Stücken im Spielplan nicht so wichtig. Shakespeare-Theater wie das Old Globe in San Diego leisten sich wirklich hervorragende Dramaturgen, und ich glaube, sie werden ganz ähnlich wie in Deutschland eingesetzt, jedoch immer noch ohne die Komponente der Kritik. An amerikanischen Theatern gibt es einfach keine kritische akademische Tradition. Die akademische Welt und die der produzierenden Gruppen sind komplett getrennt.
ZU HAUSE
HENNING: Andrea, jetzt bist du wieder zu Hause. Was fällt dir beim Theater in Portland am stärksten ins Auge?
ANDREA: Also, zwei Dinge. 1) Die meisten Theater haben weder Bar noch Restaurant, wo das Publikum vor und nach der Vorstellung zusammenkommt. Ich denke an die großen und kleinen Häuser in Berlin, da gab es immer irgendeinen Ort, wo man vorher und nachher mit Freunden zusammensitzen konnte. Mir fehlen die Zeit und der öffentliche Ort, wo man über eine künstlerische Erfahrung nachdenken kann. Und 2) In Deutschland hören die Leute nicht auf zu klatschen. Die Darsteller kommen immer wieder raus, und das ganze Applausritual dauert zehn Minuten. In den USA klatscht man kurz, das Licht geht an, und man geht nach Hause. In Deutschland ging mir das epische Geklatsche oft auf die Nerven. Jetzt fehlt mir ein bisschen mehr Zeit, in der sich die Erfahrung des Stücks setzen kann, eine Übergangszeit zwischen der Erfahrung des Stücks und dem realen Leben. Als Autorin fehlt mir Berlin. Ein Ort, an dem sich die Diskussion über Theater meistens NICHT darum dreht, wie man es vor dem Aussterben rettet, ist ein Geschenk.
Juli-Dezember 2015
ANDREA STOLOWITZ
Die Stücke von Andrea Stolowitz entstanden und sind gezeigt worden bei The Cherry Lane (NYC), The Old Globe (SD), The Long Wharf (CT), New York Stage and Film (NY) sowie dem Portland Center Stage (OR). Die LA Times nennt ihre Arbeit „herzzerreißend“, und das Orange County Register bezeichnet ihre Methode als „tapfere Verweigerung, Themen und schwierige Entscheidungen aufzuhübschen.”
Andrea ist Gründungsmitglied des Schreibkollektivs Playwrights West und arbeitet als Autorin mit der preisgekrönten Theatergruppe hand2mouth theater zusammen. Sie ist Hausautorin beim Artists Repertory Theater.
Andrea war „Walter E. Dakin“-Stipendiatin bei der Sewanee Writers Conference, erhielt Stipendien vom Ledig House, von Soapstone und Hedgebrook sowie Arbeitsstipendien von North Carolina, Oregon und privaten Stiftungen. 2013 gewann sie das Stipendium der Oregon Arts Commission Fellowship. 2014 erhielt sie ein DAAD-Stipendium für ihre Arbeit beim English Theatre Berlin und an ihrem neuen Stück in Berlin. Im Oktober 2014 wurde ihr Stück ITHAKA von Drama Panorama in einer szenischen Lesung in deutscher Übersetzung gezeigt (Henning Bochert) im Kunstquartier Bethanien gezeigt.
Andrea hat einen MFA für Szenisches Schreiben der UC-San Diego und an der Willamette University, The University of Portland, Duke University und UC-San Diego unterrichtet.
Zuerst veröffentlicht auf HowlRound (gekürzte Fassung)
Weitere Veröffentlichungen:
HOTreview
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